Wie Kälte ins Gehirn kommt
Unsere Reaktionen auf Schmerz oder Temperatur sind wichtige Sinneswahrnehmungen. Für ihre Erforschung bekommen zwei Wissenschaftler den Medizin-Nobelpreis.
Die Nobelpreis-Regularien erinnern den Beobachter oft an eine Lotterie, wobei Stockholm kaum Nieten vergibt. Aber Beobachter sind sich – was den Preis für Medizin und Physiologie anlangt – zuweilen unsicher, ob nun ein kirgisisches Team ausgezeichnet wird, weil es die Ursachen für die Entstehung des Hammerzehs entdeckt hat. Oder ob der Preis nach Japan geht, wo im Laborversuch die Wirkung monoklonaler Antikörper bei Krebspatienten präzisiert wurde.
In diesem Jahr fragte sich alle Welt, ob nicht die Entwicklung der Corona-Impfstoffe, vor allem der mRNATechnologie, gewürdigt werden müsste. Doch Stockholm hat anders entschieden. Und irgendwie lag das Votum des Komitees in der Luft, weil das geehrte Forscherpaar, der USAmerikaner David Julius und der im Libanon geborene Forscher Ardem Patapoutian, schon vor Kurzem den „Frontiers of Knowledge Award“bekommen hatte – und der gilt als bahnende, für Stockholm prophezeiende Einrichtung. Die bahnbrechenden Entdeckungen durch die diesjährigen Nobelpreisträger „haben es uns ermöglicht zu verstehen, wie Wärme, Kälte und mechanische Kräfte die Nervenimpulse auslösen, die es uns ermöglichen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und uns an sie anzupassen“, erklärte das Komitee in Stockholm.
Wir alle kennen den Moment, da uns die Hand eines anderen Menschen berührt – doch ist sie unangenehm warm oder schwitzig? Oder ist das Händchen eiskalt, wie Rodolfo in Puccinis „La Bohème“erschreckt feststellen musste, als er Mimì kennenlernt? Julius und Patapoutian, zwei Molekularbiologen, beschäftigen sich seit Jahren mit Rezeptoren für Temperatur und Berührung im Körper.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem wahrlich reizvollen Thema der Oberflächensensibilität ist nicht neu, sie hat eine ehrwürdige Geschichte, die weit ins 19. Jahrhundert reicht, etwa zu den Physiologen Max von Frey und Ernst Heinrich Weber. Doch die molekulare Forschung ist noch relativ frisch. In jedem Fall eröffnet sie spannende medizinische Möglichkeiten. Derzeit identifizieren mehrere Labore spezifische Moleküle, die auf jene Rezeptoren wirken, um etwa chronische Schmerzen bei entzündlichen Prozessen wie Arthritis zu behandeln.
David Julius fand heraus, dass der Rezeptor, der bei der Einnahme von Capsaicin – dem scharfen Inhaltsstoff in Chilischoten – ein Brennen im Mund auslöst, auch für die Wahrnehmung von Hitze verantwortlich ist; man kennt das Phänomen von
Wärmepflastern. Über das Signal, das der Rezeptor aussendet, erreicht der Schmerz das Gehirn. Es entscheidet darüber, ob die Hitze so stark ist, dass sie das Gewebe verbrennt und in diesem Fall ein warnendes Schmerzempfinden erzeugt.
„Pflanzen verteidigen sich, indem sie Substanzen erzeugen, die Raubtieren Schmerzen verursachen. Wir dachten, wir könnten diese Werkzeuge verwenden, um das Schmerzempfinden auf molekularer Ebene zu verstehen“, sagte Julius neulich über seine Arbeit. Er forschte weiter, bis er entdeckte, dass der Rezeptor für die Kältewahrnehmung unseres Körpers demjenigen ähnelt, der Capsaicin erkennt. „Diese Ergebnisse haben uns gezeigt, dass die Natur eine gemeinsame Strategie verwendet, die es unserem Nervensystem ermöglicht, Temperaturänderungen durch eine Familie ähnlicher Moleküle zu erkennen“, sagte der Wissenschaftler.
Letztlich ist es eine Fahndung nach Verwandtschaften. Was haben die Rezeptoren, die beim Hacken einer Zwiebel die Augen brennen lassen, mit den Giften bestimmter Tiere zu tun? „Der entscheidende Punkt“an diesem Mechanismus sei, dass „er für das Verständnis eines Schmerzes wichtig ist und wir verstehen, wie eine Gewebeverletzung nicht nur akute, sondern anhaltende Schmerzen erzeugt“.
Patapoutians Forschungen hatten die Beobachtung zur Grundlage, dass Berührung der einzige Sinn ist, der auf der Übersetzung eines physikalischen Signals in chemisches Vokabular basiert, das der Körper versteht. Sein Team suchte nach Zellen, die in einer Laborkultur elektrisch auf den physikalischen Reiz des Drucks reagierten. Dann begann per Ausschlussverfahren die Isolierung des korrekten Rezeptors. „Wir wussten, dass Proteine an der Wahrnehmung von Schmerz, Berührung, Erwärmung oder Blutdruck beteiligt sind, aber niemand hatte eine Ahnung, dass eine einzige Familie, die von unserer Gruppe entdeckten Piezo-1- und Piezo-2-Rezeptoren, sogenannte Ionenkanäle, all diese Prozesse erklären könnten“, sagt Patapoutian.
Seitdem hat Patapoutian die dreidimensionale Struktur der PiezoRezeptoren enthüllt. Da gilt es zu differenzieren. „Piezo 2 zum Beispiel wird für eine Untergruppe von Schmerzen benötigt. Nicht für den Schmerz, wenn man von einem Hammer getroffen wird – der hat mit diesem Rezeptor wenig zu tun“, erklärt Patapoutian: „Aber wenn Sie einen Sonnenbrand bekommen und nur die Schulter schmerzt, scheint diese Form von Schmerz von Piezo 2 abhängig zu sein. Dies könnte bei der Behandlung von neuropathischen Schmerzen wichtig sein.“
Der Rezeptor, der bei Schärfe ein Brennen im Mund auslöst, ist auch für Hitzewahrnehmung zuständig