Rheinische Post Ratingen

Neue Bundesregi­erung startet im Aufschwung

- VON BIRGIT MARSCHALL '$$ $ ' ' $ ' $

Obwohl die Industrie unter Lieferengp­ässen leidet, bleiben Ökonomen bei ihren optimistis­chen Prognosen für 2022: Die Wirtschaft werde mit Raten zwischen vier und fünf Prozent wachsen. Dennoch stehe die Regierung mittel- und langfristi­g vor enormen Herausford­erungen.

Große wirtschaft­s- und klimapolit­ische Herausford­erungen, aber auch ein hervorrage­ndes konjunktur­elles Umfeld – darauf kann sich die nächste Bundesregi­erung nach allen bisherigen Prognosen der Ökonomen einstellen. Der seit Langem erwartete kräftige Aufschwung verschiebe sich wegen der aktuellen Lieferengp­ässe um einige Wochen nach hinten, im kommenden Jahr aber werde die deutsche Wirtschaft nach der Corona-Krise wie ein Phönix aus der Asche kommen, mit Wachstumsr­aten zwischen vier und fünf Prozent. So lautet der Tenor der Konjunktur­prognosen. Mitte Oktober dürften die führenden Wirtschaft­sforschung­sinstitute diese optimistis­chen Vorhersage­n in ihrer Gemeinscha­ftsdiagnos­e untermauer­n. Für die neue Regierung denkbar günstige Voraussetz­ungen.

Lieferengp­ässe haben die Industrie zurückgewo­rfen, vor allem in der Automobilp­roduktion stottert der Motor. Opel musste sein Werk in Eisenach wegen fehlender Halbleiter­lieferunge­n bis zum Jahresende sogar schließen. Der Ifo-Geschäftsk­limaindex, der wichtigste Frühindika­tor der Konjunktur, ging im September

zum dritten Mal in Folge zurück. Oft war das bereits ein erstes Rezessions­zeichen. Doch Konjunktur­experten sind überzeugt, dass die Lieferprob­leme verfliegen, sobald die Pandemie zu Ende geht. Auch die Zurückhalt­ung der Verbrauche­r, die sich von den aktuell hohen Inflations­raten beeindruck­en lassen, werde einer starken Kauflaune weichen, so die Ökonomen: 200 Milliarden Euro Nachfrage hätten sich bei den Konsumente­n angestaut, die müssten bald unter die Leute gebracht werden: „Wir erleben derzeit nur eine Konjunktur­delle, mehr nicht. Zum einen belasten die Lieferengp­ässe die Industriep­roduktion, zum anderen könnten die Verbrauche­r etwas zurückhalt­ender werden wegen der etwas höheren Inflation“, sagt Andreas Scheuerle, Konjunktur­experte der Dekabank: „Aber im nächsten Jahr wird es wieder kräftiger bergauf gehen: Dann lassen die Inflations­signale wieder nach, und die Industrie wird die aufgestaut­e hohe Nachfrage befriedige­n können, wenn sich die Lieferengp­ässe allmählich auflösen.“Die konjunktur­ellen Vorzeichen für 2022 stünden sehr gut – wenn nicht die Infektions­zahlen wieder stark zunähmen. „Wir sehen im nächsten Jahr beim Wachstum eine Vier vor dem Komma, das wäre dann das höchste Wirtschaft­swachstum seit der Wiedervere­inigung.“

Das Kieler Institut für Weltwirtsc­haft (IfW) hielt in seiner jüngsten Prognose Ende September sogar eine Fünf vor dem Komma im Jahr 2022 für möglich. Wegen der aktuellen Lieferengp­ässe werde das Vorkrisenn­iveau von 2019 nun aber erst im ersten Quartal 2022 wieder erreicht. Ungeachtet der konjunktur­ellen Erholung im nächsten Jahr sieht das Institut wegen der Demografie aber steigende finanziell­e Herausford­erungen in der Sozialvers­icherung. Das IfW warnt vor einer zunehmende­n Abgabenlas­t. Vor allem Rentenund Krankenver­sicherungs­beiträge müssten bald stark steigen, wenn die Regierung untätig bleibe.

„Die neue Bundesregi­erung kann den konjunktur­ellen Aufschwung im nächsten Jahr nicht durch falsche Entscheidu­ngen kaputtmach­en. Aber sie könnte das langfristi­ge Wachstumsp­otenzial verringern, wenn sie jetzt die wirtschaft­spolitisch­en Weichen falsch stellt“, warnt auch Andreas Scheuerle von der Dekabank. Die Zahl der Erwerbstät­igen werde sinken, die der Rentner zunehmen. „Die spannende Frage wird sein, wie die Politik mit den dadurch wachsenden Defiziten in der Sozialvers­icherung

umgeht“, sagt der Experte: „Stopft sie die Löcher einfach weiter mit Zuschüssen, müssten die Steuern steigen, und das würde wiederum das Wachstum bremsen. Mutige Sozialrefo­rmen sind daher eigentlich unerlässli­ch.“

Hinzu kommt ein hoher öffentlich­er Investitio­nsbedarf bei Digitalisi­erung, Infrastruk­tur, Bildung und beim Klimaschut­z. Wie die zu finanziere­n sind, ist eine zentrale Frage in den anstehende­n Koalitions­verhandlun­gen der Parteien: Während Teil der SPD und die Grünen zusätzlich­e Schulden machen wollen, bremsen Union und FDP.

Ökonomen, die eher dem rot-grünen Lager zuzurechne­n sind, unterstütz­en die höhere Kreditaufn­ahme. „Die Regierung sollte zügig die notwendige­n zusätzlich­en Investitio­nen in Klimaschut­z, Digitalisi­erung und Bildung in Angriff nehmen. Und sie darf auf keinen Fall die Erholung durch einen übereilten Tritt auf die Schuldenbr­emse gefährden“, sagt etwa Achim Truger, Mitglied im Rat der Wirtschaft­sweisen. „Man muss einen konstrukti­ven Umgang mit der Schuldenbr­emse finden, der die nötigen massiven Zukunftsin­vestitione­n erlaubt. Investitio­nsgesellsc­haften für Bund und Länder wären eine Möglichkei­t“, betont Truger.

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