Marcel Odenbach setzt das Messer an
Im Düsseldorfer K21 breitet der Kölner Künstler ein politisch gefärbtes Werk aus Videos, Zeichnungen und Collagen aus.
DÜSSELDORF Zeig mir deine Langspielplatten, und ich sag’ dir, wann du geboren bist. In Marcel Odenbachs LP-Stapel liegt Herbie Hancock ganz oben, Nina Hagen und Sade sind darunter, Miles Davis’ „Sketches of Spain“kommt vor, und zweimal das Mahavishnu Orchestra. Aus ein paar Meter Entfernung glaubt man noch, es handle sich bei dem Stapel um ein Foto oder fotorealistisches Gemälde. Täuschend echt ist es. Je näher man herantritt, desto mehr begeben sich die Augen auf die Suche und erkennen eine einzige große Collage. Buchstaben,
Ziffern und die den Coverdeckel markierenden Horizontalen wurden aus Papier und Fotokopien geschnitten, mit Bleistift und Tinte bemalt. In seinem Suchbild hat der Künstler die Farbbalken mit winzigen Motiven und Texten aufgefüllt. 1,51 mal 2,60 Meter misst das so betitelte „Selbstporträt“von 2017. Es erzählt von einer Seite des Marcel Odenbach, Jahrgang 1953, geboren in Köln, von seinen Vorlieben zur Musik.
Solche Collagen, deren Einzelteile er bis ins Detail präzise mit dem Messer schneidet, sind derzeit mit Videoarbeiten und frühen Zeichnungen in der Kunstsammlung NRW zu einer facettenreichen Ausstellung vereint. Seit etwa 45 Jahren schon treibt Odenbach, der bis zu diesem Sommer Akademieprofessor in Düsseldorf war, sein Werk voran als Videokünstler, Filmemacher, Zeichner, Performer und Bilderfinder, der nahezu alle Kunst in einer gesellschaftspolitischen Dimension bewertet sehen will. Das beginnt bei seiner Person mit Verortungen und Identitätssuche. Und es nimmt historische wie gegenwärtige Bezüge auf. Unter Einsatz eines Messers zerschneidet Odenbach die Bilder von Wundern und Wunden seiner Lebensstationen, er fokussiert, deutet um, stellt infrage und Kontextmaterial in Form von Bildern und Texten zur Seite.
Die Collagen setzen sich aus Hunderten Einzelbildern zusammen. Ein Werk zu dechiffrieren, wie etwa das Landschaftsbild unter dem Titel „Familienfeier“mit Hitlers BerghofIdyll als Ausgangsmotiv, kann den Betrachter über Stunden beschäftigen. Am Ende dekonstruiert Odenbach die Welt, wie sie sich präsentierte in der Borniertheit und Kälte
Sa/So von 14–16 Uhr, mit den Kuratorinnen zweimal monatlich, nur mit Anmeldung per E-Mail an service@kunstsammlung.de. Dazu Thementage für die Familie, Ferienworkshops, Infos unter www.kunstsammlung.de.
Künstlergespräch Kuratorin Doris Krystof mit Marcel Odenbach am Mittwoch, 3.1., 20 Uhr, im K 21.
Katalog Der reich bebilderte Katalog erscheint im Hirmer-Verlag, 39 Euro. Außerdem erscheint ein Doppelvinylalbum mit Musik von Richard Ojijo bei Walther König.
der 1968er-Jahre, als man viel zu spät in Deutschland begann, die jüngere Zeitgeschichte kritisch zu betrachten und die ältere neu zu deuten. Nationalsozialismus, Kolonialismus, Rassismus sind die großen Themen, auch Klischees von Fremdsein und Exotik. 1977 reflektiert Odenbach die Bilddramatik der RAF-Terroristen in einer seiner ersten Collagen mit Arbeitgeberpräsident Schleyer als RAF-Opfer.
Während der Dreharbeiten zu seiner halbstündigen ZweikanalInstallation über den Genozid in Ruanda von 1994 geriet er ins Gefängnis. In der Dokumentation über den millionenfachen Mord an den Tutsi kommen keine Gewaltszenen vor, er bevorzugt Bilder der Spuren von Gewalt: Massengräber, Einschusslöcher, blutige Kleidung, Leichen. Seine 2002 gedrehten Aufnahmen hat er mit Archivmaterial der Vereinten Nationen zusammengesetzt, auf einer Tonspur laufen historische Radioaufnahmen, Hetzreden und Mordaufrufe. Zum Titel „In stillen Teichen lauern Krokodile“setzt er Bachs Matthäuspassion. So weit gefasst und epochenübergreifend ist Odenbachs Assoziationsfeld.
Das dramatischste Video dieser Art und der teuerste Dreh seines Lebens zog ihn ins ehemalige KZ Buchenwald, das von den Sowjets befreite Konzentrationslager. Mit unglaublich dringlichen Kamerafahrten, Worten von Ingeborg Bachmann („Beweis zu nichts“) und einem Drachen am Himmel erinnert er wortlos. Die Absurdität des Bösen bringt – wie schon seit 20 Jahren – Richard Ojijo zum Klingen.
Odenbach sagt, sein Werk stehe für seine Generation, die das „Weltverändernde“noch in sich hatte. Er findet dabei eine Balance aus Subjektivität und vermeintlich objektivierbarem Interesse. Dazu kommt sein Gespür für die Wirkmacht von Bildern. „Es gibt einen schönen Schein“, sagt er und spricht von dem Äußeren, das eine Realität versteckt: „Der Inhalt verbirgt sich erst einmal in meinen Bildern.“
Giftgrün hat er eine „FAZ“-Titelseite übermalt, ziemlich groß geriet 2015 der Bericht über den Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris. Es war ein Anschlag auf die Freiheit der Kunst, sagt Odenbach. Zum Grün, das auch „Schweinfurter“oder „Pariser Grün“genannt wird und mit dem Grün des Islam verwandt ist, gibt er Pressetextschnipsel vom Tag des Attentats hinzu und Skizzen aus Original-Karikaturen.
Odenbach ist Chronist von Gegenwart und Vergangenheit. Mehr als das Gute regt ihn das Böse auf. So drang auch das Coronavirus in seine Bilderwelt, von 2021 datiert die Collage „Zur Ruhe kommen“, selbst die Tapete ist eine einzige Virenwimmelei. Persönliche Bezüge haben „Meine Freimarken“; in der Collage hat er die Sammlung seiner Kindheit nachgebaut und sie (bei näherem Hinsehen) mit erklärenden Zusätzen versehen.
Fast das Puzzle eines Lebens hat Kuratorin Doris Krystof mit der anregenden Schau ausgebreitet: die Zeichnungen mit Texten aus den 1970ern, das Lamento seiner Collagen, dann die wuchtigen Videos, die ihn berühmt gemacht haben. Man verlässt mit Tausenden Bildern im Kopf diesen Hort intellektueller, politischer und ästhetischer Kunst. Und man kann sicher sein, dass Odenbach nicht lügt, wenn er sagt: „Überall bin ich.“
Odenbach sagt, sein Werk stehe für seine Generation, die das „Weltverändernde“noch in sich hatte