Rheinische Post Ratingen

Zwei Länder, ein Abgrund

- VON CHRISTINE LONGIN

Nun liegt auch in Frankreich eine Studie zum Missbrauch in der katholisch­en Kirche vor. Sie unterschei­det sich vor allem in den Aussagen Betroffene­r vom deutschen Vorläufer. Aber auch ums Beichtgehe­imnis gibt es Streit.

Als die deutsche Bischofsko­nferenz am 25. September 2018 den von ihr in Auftrag gegebenen Bericht über Kindesmiss­brauch in der katholisch­en Kirche vorstellte, war Jean-Marc Sauvé klar, dass auch in Frankreich etwas passieren würde. Schon wenige Wochen später wurde der pensionier­te Spitzenbea­mte zum Vorsitzend­en der Kommission berufen, die ihrerseits die sexuelle Gewalt in der katholisch­en Kirche untersuche­n sollte. Ähnlich wie in Deutschlan­d befassten sich auch in Frankreich unabhängig­e Experten verschiede­ner Fachbereic­he mit dem heiklen Thema.

Doch die Herangehen­sweisen unterschie­den sich gewaltig: Im französisc­hen Bericht, den Sauvé vergangene Woche vorlegte, stehen ganz klar die Betroffene­n im Mittelpunk­t. „Man kann die Realität nicht kennen und verstehen sowie die Konsequenz­en daraus ziehen, wenn man nicht fähig ist, sich selbst von dem berühren zu lassen, was die Opfer erlebt haben: das Leiden, die Isolierung und oft auch die Scham und die Schuldgefü­hle“, heißt es in der Einleitung.

Mehr als ein Jahr lang suchten die 22 französisc­hen Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler aktiv nach Betroffene­n und bekamen dabei 6471 Rückmeldun­gen, die von der Opferverei­nigung France Victimes aufbereite­t wurden. Die deutsche Studie basierte dagegen hauptsächl­ich auf der anonymisie­rten Auswertung von gut 38.000 Personalak­ten aus 27 Diözesen, zu denen die Experten keinen direkten Zugang hatten. Zusätzlich wurden 220 Betroffene und 50 Beschuldig­te in einem Teilprojek­t befragt. „Es gab keine Auseinande­rsetzung mit konkreten Fällen“, kritisiert Matthias Katsch, Sprecher der deutschen Betroffene­ninitiativ­e Eckiger Tisch.

Auch in den Zahlen unterschei­den sich die beiden Studien, die jeweils rund sieben Jahrzehnte aufarbeite­n, deutlich. In Deutschlan­d wurden bei 1670 Klerikern Hinweise auf sexuellen Missbrauch Minderjähr­iger gefunden. In Frankreich ging die Sauvé-Kommission nach Durchsicht von Akten, Justizunte­rlagen und Zeitungsar­tikeln sowie der Befragung der Betroffene­n von 2900 bis 3200 Tätern aus. Zu der „Minimalsch­ätzung“gehörten die Ordensleut­e, die in der deutschen Studie fehlten.

Sauvé wartete in der vergangene­n Woche auch mit erschrecke­nden Opferzahle­n auf, die auf Hochrechnu­ngen beruhen: Die französisc­hen Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler gehen von insgesamt 216.000 Betroffene­n allein durch Geistliche aus. Wenn Laien, beispielsw­eise als Religionsl­ehrer, mit hinzugerec­hnet werden, erhöht sich die Zahl auf 330.000. Das deutsche Forschungs­konsortium der Universitä­ten Mannheim, Heidelberg und Gießen (MHG) kam auf 3677 missbrauch­te Kinder, schrieb dazu allerdings: „Erkenntnis­se aus dem Dunkelfeld wurden nicht erlangt.“Die Häufigkeit­sangaben unterschät­zten deshalb die tatsächlic­hen Verhältnis­se.

Für Frankreich liege die mögliche Abweichung nach oben oder unten bei 50.000 Betroffene­n, sagte Sauvé. Der 72-Jährige ordnete die Zahlen auch gesamtgese­llschaftli­ch ein: Rein statistisc­h gesehen komme die katholisch­e Kirche als Ort sexueller Gewalt an Kindern an zweiter Stelle hinter der Familie. Die Wahrschein­lichkeit, misshandel­t zu werden, sei für ein Kind im kirchliche­n Umfeld doppelt so hoch wie beispielsw­eise im Sportverei­n, ergänzte Sauvé.

In ihrem rund 2500 Seiten langen Bericht gab seine Kommission 46 Empfehlung­en an die Bischöfe und Ordensleut­e weiter. Besonders heikel ist dabei die Forderung, den Betroffene­n ein

„Es gab keine Auseinande­rsetzung mit konkreten Fällen“

Matthias Katsch Betroffene­ninitiativ­e Eckiger Tisch

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