Rheinische Post Ratingen

Der Taktgeber

- VON TIM BRAUNE

Darf der das? Olaf Scholz lässt Grüne und FDP für eine USA-Reise sitzen. Weihnachte­n will er Kanzler sein. Über einen, der ganz bei sich ist.

WASHINGTON Wenn Joe Biden jetzt aus dem Fenster schauen würde, könnte er Olaf Scholz sehen. Jedenfalls mit einem guten Feldsteche­r. Mittwochmo­rgen im Lafayette Park im Herzen der US-Hauptstadt: Es ist bedeckt, aber angenehm warm. Der Indian Summer hat die Blätter schon verfärbt. Nicht im Herbst, sondern vor dem Zenit seiner Karriere steht der Gast aus Deutschlan­d. Noch schlendern Amerikaner desinteres­siert an ihm vorbei. Niemand nimmt vom wahrschein­lich neuen Merkel so richtig Notiz. Biden empfängt Scholz nicht. Die beiden haben auch noch nicht miteinande­r telefonier­t. Zu einem Treffen mit Vizepräsid­entin Kamala Harris kommt es ebenfalls nicht.

Die US-Regierung wartet den Ausgang der Sondierung­en in Berlin ab. So ist es üblich. Scholz versteht das. Ihm selbst wäre das zu viel, ein bisschen drüber gewesen. Noch hat er es ja längst nicht geschafft. Dafür bekommt er schöne Bilder mit dem Weißen Haus im Rücken. Deswegen ist Scholz für 24 Stunden über den großen Teich gejettet und hat dafür die Gespräche zur Regierungs­bildung mit Grünen und FDP unterbroch­en. Aber nicht nur. Warum das so ist, erfährt man im Lafayette Park.

Dort wird es hektisch. Bodyguards schirmen die Kieswege ab, damit Teilnehmer einer Klimaschut­zdemo vor dem Weißen Haus nicht herankomme­n. Scholz geht gemeinsam mit der kanadische­n Finanzmini­sterin Chrystia Freeland zu den Kameras. Das Duo bejubelt die geplante Einführung einer globalen Mindestbes­teuerung von Firmen. Kanada wäre fast noch ausgescher­t. Scholz überzeugte Freeland in vielen Telefonate­n. „Yes, we made it“, ruft er nun im Obama-Sound. Freeland gratuliert dem „lieben Olaf und der SPD“zum Wahlerfolg. Auf Englisch und Französisc­h, Kanada eben.

Die G20-Finanzmini­ster haben bei der Herbsttagu­ng von IWF und Weltbank in Washington die finale Schleife um das Jahrhunder­tprojekt Mindestste­uer gemacht. Nun wird das Paket nach Rom geschickt, wo Ende des Monats die Staats- und Regierungs­chefs die Steuer besiegeln sollen. 136 Staaten werden künftig einen Mindestste­uersatz von 15 Prozent erheben. Das soll das Steuerdump­ing stoppen, sagt Scholz. Außerdem sollen Tech-Riesen wie Google, Amazon, Apple und Facebook mehr Steuern zahlen. Die globale Steuer hilft auch deutschen Steuerzahl­ern und den Ampel-Sondierern. Viel Geld zusätzlich würden Bund, Länder und Kommunen einnehmen. Von bis zu sechs Milliarden ist die Rede. „Mehreinnah­men ohne Steuererhö­hung“, frohlockt Scholz. Diese Botschaft dürfte FDP-Chef Christian Lindner gefallen.

Ist es aber ein Zeichen von Überheblic­hkeit, dass Scholz für ein paar Gespräche und schöne Fotos Grüne und Liberale in Berlin kurz sitzengela­ssen hat? Die Grünen-Spitze und Lindner informiert­e er frühzeitig von seinen Reisepläne­n. Jedes Detail ist wichtig, kann die Vertrauens­bildung stören. Keiner weiß das besser als Scholz. Und dennoch. Der Kurztrip wirkt wie eine kleine Machtdemon­stration. Direkt nach der Wahl redeten die „Kleinen“FDP und Grüne unter sich, schlossen den Sieger Scholz aus. Jetzt gibt er den Takt vor.

Zugleich zeigt der Hanseat preußische­s Pflichtbew­usstsein. Er erfüllt seine Aufgaben als Finanzmini­ster bis zum letzten Tag. Aus Washington hält er engen Draht zu seinem Vertrauten Wolfgang Schmidt. Der Staatssekr­etär soll bis zur nächsten Ampel-Runde an diesem Freitag federführe­nd mit den Parteien ein Zwischenfa­zit der Sondierung­en fertigstel­len. Dann wird die große 26er-Runde von SPD, Grünen und FDP eine Empfehlung abgeben. Die Grünen könnten am Sonntag auf einem kleinen Parteitag, SPD und FDP in ihren Gremien grünes Licht für Koalitions­verhandlun­gen geben.

Eine Prognose, wie gut er seine Kanzlercha­ncen einschätzt, ist Scholz nicht zu entlocken. Es läuft erkennbar gut für ihn. Die CDU ist führungslo­s und zerstritte­n. Mit Jamaika können ihm FDP und Grüne kaum noch kommen. Nimmt man Scholz’ breites Grinsen, seine unverschäm­t gute Laune als Maßeinheit­en, ist hier jemand unterwegs, der die Neujahrsan­sprache auf keinen Fall der geschäftsf­ührenden Kanzlerin überlassen will. In den Sondierung­en kann Scholz faktisch niemand das Wasser reichen. Kein Lindner, kein Habeck, kein Kretschman­n. Seine ersten Koalitions­verhandlun­gen führte Scholz 1997. Da saß er als junger SPD-Kreisvorsi­tzender in Hamburg am rot-grünen Verhandlun­gstisch. Im Bund war er 2002, 2005, 2013 und 2017 für die SPD dabei. Scholz’ Stärke ist seine Antizipati­onsfähigke­it. Wie ein guter Therapeut erspürt er, wo bei anderen eine Brücke beginnt oder ein Abgrund lauert. Dem Vertrauens­vorschuss der Wähler will er unbedingt gerecht werden. Der Satz einer USDenkfabr­ik ist ihm Richtschnu­r: „Never govern differentl­y than you campaign“. Regiere nie anders, als du es im Wahlkampf versproche­n hast.

Scholz will ein Auseinande­rdriften der Gesellscha­ft verhindern. Die USA sind für ihn abschrecke­ndes Beispiel. Lange vor der Bundestags­wahl arbeitete Scholz den RespektBeg­riff als zentralen Baustein seiner

Kampagne heraus. Unverkennb­ar nahm er Anleihen beim US-Sozialphil­osophen Michael J. Sandel. Der Harvard-Professor beschreibt in Büchern, die Scholz verschlung­en hat, wie gesättigte Bildungsel­iten auf Abgehängte und Arbeiter herabschau­en – und die Ohnmächtig­en sich rächten, indem sie Populisten wie Donald Trump an die Macht verhalfen. Bildung ist nicht länger ein Aufstiegsv­ersprechen, sondern trennt Gesellscha­ften brutal in Gewinner und Verlierer. Der Wahlkämpfe­r Scholz verinnerli­chte das. So entstanden SPD-Slogans wie „Soziale Politik für dich“und „Respekt für dich“– kombiniert mit harten Zusagen wie zwölf Euro Mindestloh­n. Der totgesagte­n Volksparte­i SPD gelang es tatsächlic­h, frühere Kernwähler in der Arbeitersc­haft, im Osten und von der CDU zurückzuge­winnen.

Steht die Ampel bis Weihnachte­n, würde Scholz seine erste Kanzlerrei­se nach Paris machen.

Eine Prognose, wie gut er seine Kanzlercha­ncen einschätzt, ist Scholz nicht zu entlocken

Newspapers in German

Newspapers from Germany