Wie „Step Up“in der JVA
Svenja Jung beeindruckt in „Fly“mit Schauspiel und Tanz. Die Story des Dramas gerät dabei aber in den Hintergrund – leider.
Bex (Svenja Jung) sitzt mit verschränkten Armen in einer Ecke des Raums. Sie sieht zu den anderen Teilnehmern ihres Resozialisierungs-Programms hinüber. Jeder von ihnen stellt ein Element tänzerisch dar. Erde, Luft, Feuer – und Wasser. Nach kurzer Zeit wird es der jungen Frau zu viel, sie wird eingeholt von ihrer Vergangenheit und ihren Schuldgefühlen und verlässt fluchtartig den Raum.
Das traumatische Erlebnis, das Bex in diesem Moment einholt, hat sie ins Gefängnis gebracht. Im Film „Fly“von Regisseurin Katja von Garnier („Ostwind“) muss Bex an einem Resozialisierungs-Programm im Rahmen ihrer Haftstrafe teilnehmen. Da sie keine Lust auf Mülldienst im Park oder ähnliche Aufgaben hat, entscheidet sie sich schließlich für ein Tanz-Programm, obwohl sie zu Beginn Probleme damit hat, vor anderen zu tanzen.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Programms sitzen im Gefängnis oder sind auf Bewährung draußen. Sie alle verbindet eine Leidenschaft für den Tanz, der in „Fly“hauptsächlich aus dem Bereich Street-Dance kommt, aber auch Elemente des zeitgenössischen Tanzes beinhaltet. Ansonsten haben die jungen Männer und Frauen keine Gemeinsamkeiten. Anfangs kommt es zu Konflikten in der Gruppe.
Es ist Aufgabe von Ava ( Jasmin Tabatabai), diese Gruppe ungleicher Einzelgänger zusammenzuführen und sie zeigen zu lassen, dass Tanz beim Weg zurück in die Gesellschaft helfen kann. Ihre Bekannte Sara (Nicolette Krebitz), die das Programm aufgesetzt hat, hat die toughe, aber verschlossene Ava mit ins Boot geholt. Jetzt schwebt eine Deadline über der Tanztrainerin und ihrer Gruppe, denn das Programm soll eingestellt werden, wenn es keine sichtbaren Ergebnisse erzielt. In ihrer Arbeit mit der ResozialisierungsGruppe sieht Ava sich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert.
Während die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich langsam an einander gewöhnen und im Tanz zueinander finden, wird Bex nachts von Albträumen heimgesucht. Ihre kleine Zelle läuft mit Wasser voll und sie kämpft gegen das Ertrinken an. Der Tanz hilft ihr, die Albträume auszuhalten. Und auch Jay (Ben Wichert) trägt dazu bei, dass die stille, sich um Stärke bemühende Frau sich allmählich der Tat stellt, die sie ins Gefängnis gebracht hat. Sie träumt vom Fliegen und von Freiheit. Und sie findet es schließlich im Tanz.
Die Geschichte von „Fly“hat Potenzial, bleibt am Ende jedoch zu vorhersehbar und in ihrer Umsetzung uninspiriert. Sie ist um die Tänze herumgestrickt als verbindendes Element. Ein richtiges Ineinandergreifen
von Story und Tanz findet nicht statt, wäre aber wünschenswert gewesen. So jedoch vergisst die Geschichte stellenweise ihre eigenen Voraussetzungen, zum Beispiel die Tatsache, dass Bex ja eigentlich im Gefängnis sitzt und sich nur unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Zeiträumen frei draußen bewegen darf.
Auch die Figuren wirken bisweilen überzeichnet. So überbieten sich Bex und Tanzlehrerin Ava geradezu darin, als starke Frau aufzutreten, die nichts an sich ranlässt.
Auf der anderen Seite ist Sara, die Gründerin des ResozialisierungsProgramms, das genaue Gegenteil ihrer Freundin. Damit soll sie für ein paar humoristische Momente sorgen, wird dieser Erwartung jedoch nicht immer gerecht. Sie verkommt stellenweise zu einem Klischee. Trotzdem machen die Schauspielerinnen ihre Sache gut. Mit Blick auf den gesamten Cast können jedoch nicht alle Darsteller überzeugen. Einigen merkt man an, dass sie wegen ihrer tänzerischen, nicht aber ihrer schauspielerischen Fähigkeiten
gecastet wurden. Das lässt sich allerdings verschmerzen. Denn immerhin ist der Tanz die entscheidende Komponente des Films. Und die beste.
Unter den Tänzerinnen und Tänzern sind Mitglieder der bekannten Urban-Dance-Gruppe „Flying Steps“sowie die Hip-Hop-FreestyleWeltmeister Ben Wichert und Majid Kessab. Namhafte Choreografen wie Phillip Chbeeb und Yaman Okur vervollständigen das Team, das für beeindruckende Tanzszenen sorgt. Es ist eine große Freude, ihnen zuzusehen. Unterstützt werden die Tänze von guter Kameraarbeit, die die Bewegungen ästhetisch einfängt. In den Tanzszenen vermischt sich bisweilen
die Realität der Charaktere mit einer traumhaften Alternativwelt. Das gilt besonders in den Albtraum-Szenen, in denen der Film in die Gedankenwelt von Bex eindringt. Man sieht, wie das Wasser in ihrer Zelle steigt, wie sie es mithilfe des Tanzes zurückdrängt. Das Wasser dient als Metapher für die Gefühle, die sie unterdrückt, weil sie sie ansonsten überwältigen würden. Es ist ein gut gemachter, wenn auch wenig subtiler Kunstgriff.
Die bemerkenswerten Tanzszenen bleiben hängen, der Film als Ganzes jedoch nicht. Die Probleme der Story verhindern, dass „Fly“sich von vergleichbaren Tanzfilmen absetzt. In einer Szene bezeichnet ein Teilnehmer des Resozialisierungsprogramms das Vorhaben der TanzGruppe als „Step Up: JVA-Edition“. Der ironische Kommentar passt als Fazit für den ganzen Film. Mit etwas mehr Mut hätte man ihn aus dieser Ecke herausholen können.
Sie träumt vom Fliegen und von Freiheit. Und sie findet es schließlich im Tanz.
„Fly“(Deutschland 2021), 110 Minuten; R: Katja von Garnier; mit Svenja Jung, Ben Wichert, Jasmin Tabatabai, Nicolette Krebitz, Katja Riemann.