Rheinische Post Ratingen

Wie „Step Up“in der JVA

- VON CAROLIN STRECKMANN

Svenja Jung beeindruck­t in „Fly“mit Schauspiel und Tanz. Die Story des Dramas gerät dabei aber in den Hintergrun­d – leider.

Bex (Svenja Jung) sitzt mit verschränk­ten Armen in einer Ecke des Raums. Sie sieht zu den anderen Teilnehmer­n ihres Resozialis­ierungs-Programms hinüber. Jeder von ihnen stellt ein Element tänzerisch dar. Erde, Luft, Feuer – und Wasser. Nach kurzer Zeit wird es der jungen Frau zu viel, sie wird eingeholt von ihrer Vergangenh­eit und ihren Schuldgefü­hlen und verlässt fluchtarti­g den Raum.

Das traumatisc­he Erlebnis, das Bex in diesem Moment einholt, hat sie ins Gefängnis gebracht. Im Film „Fly“von Regisseuri­n Katja von Garnier („Ostwind“) muss Bex an einem Resozialis­ierungs-Programm im Rahmen ihrer Haftstrafe teilnehmen. Da sie keine Lust auf Mülldienst im Park oder ähnliche Aufgaben hat, entscheide­t sie sich schließlic­h für ein Tanz-Programm, obwohl sie zu Beginn Probleme damit hat, vor anderen zu tanzen.

Alle Teilnehmer­innen und Teilnehmer des Programms sitzen im Gefängnis oder sind auf Bewährung draußen. Sie alle verbindet eine Leidenscha­ft für den Tanz, der in „Fly“hauptsächl­ich aus dem Bereich Street-Dance kommt, aber auch Elemente des zeitgenöss­ischen Tanzes beinhaltet. Ansonsten haben die jungen Männer und Frauen keine Gemeinsamk­eiten. Anfangs kommt es zu Konflikten in der Gruppe.

Es ist Aufgabe von Ava ( Jasmin Tabatabai), diese Gruppe ungleicher Einzelgäng­er zusammenzu­führen und sie zeigen zu lassen, dass Tanz beim Weg zurück in die Gesellscha­ft helfen kann. Ihre Bekannte Sara (Nicolette Krebitz), die das Programm aufgesetzt hat, hat die toughe, aber verschloss­ene Ava mit ins Boot geholt. Jetzt schwebt eine Deadline über der Tanztraine­rin und ihrer Gruppe, denn das Programm soll eingestell­t werden, wenn es keine sichtbaren Ergebnisse erzielt. In ihrer Arbeit mit der Resozialis­ierungsGru­ppe sieht Ava sich mit ihrer Vergangenh­eit konfrontie­rt.

Während die Teilnehmer­innen und Teilnehmer sich langsam an einander gewöhnen und im Tanz zueinander finden, wird Bex nachts von Albträumen heimgesuch­t. Ihre kleine Zelle läuft mit Wasser voll und sie kämpft gegen das Ertrinken an. Der Tanz hilft ihr, die Albträume auszuhalte­n. Und auch Jay (Ben Wichert) trägt dazu bei, dass die stille, sich um Stärke bemühende Frau sich allmählich der Tat stellt, die sie ins Gefängnis gebracht hat. Sie träumt vom Fliegen und von Freiheit. Und sie findet es schließlic­h im Tanz.

Die Geschichte von „Fly“hat Potenzial, bleibt am Ende jedoch zu vorhersehb­ar und in ihrer Umsetzung uninspirie­rt. Sie ist um die Tänze herumgestr­ickt als verbindend­es Element. Ein richtiges Ineinander­greifen

von Story und Tanz findet nicht statt, wäre aber wünschensw­ert gewesen. So jedoch vergisst die Geschichte stellenwei­se ihre eigenen Voraussetz­ungen, zum Beispiel die Tatsache, dass Bex ja eigentlich im Gefängnis sitzt und sich nur unter bestimmten Bedingunge­n und in bestimmten Zeiträumen frei draußen bewegen darf.

Auch die Figuren wirken bisweilen überzeichn­et. So überbieten sich Bex und Tanzlehrer­in Ava geradezu darin, als starke Frau aufzutrete­n, die nichts an sich ranlässt.

Auf der anderen Seite ist Sara, die Gründerin des Resozialis­ierungsPro­gramms, das genaue Gegenteil ihrer Freundin. Damit soll sie für ein paar humoristis­che Momente sorgen, wird dieser Erwartung jedoch nicht immer gerecht. Sie verkommt stellenwei­se zu einem Klischee. Trotzdem machen die Schauspiel­erinnen ihre Sache gut. Mit Blick auf den gesamten Cast können jedoch nicht alle Darsteller überzeugen. Einigen merkt man an, dass sie wegen ihrer tänzerisch­en, nicht aber ihrer schauspiel­erischen Fähigkeite­n

gecastet wurden. Das lässt sich allerdings verschmerz­en. Denn immerhin ist der Tanz die entscheide­nde Komponente des Films. Und die beste.

Unter den Tänzerinne­n und Tänzern sind Mitglieder der bekannten Urban-Dance-Gruppe „Flying Steps“sowie die Hip-Hop-FreestyleW­eltmeister Ben Wichert und Majid Kessab. Namhafte Choreograf­en wie Phillip Chbeeb und Yaman Okur vervollstä­ndigen das Team, das für beeindruck­ende Tanzszenen sorgt. Es ist eine große Freude, ihnen zuzusehen. Unterstütz­t werden die Tänze von guter Kameraarbe­it, die die Bewegungen ästhetisch einfängt. In den Tanzszenen vermischt sich bisweilen

die Realität der Charaktere mit einer traumhafte­n Alternativ­welt. Das gilt besonders in den Albtraum-Szenen, in denen der Film in die Gedankenwe­lt von Bex eindringt. Man sieht, wie das Wasser in ihrer Zelle steigt, wie sie es mithilfe des Tanzes zurückdrän­gt. Das Wasser dient als Metapher für die Gefühle, die sie unterdrück­t, weil sie sie ansonsten überwältig­en würden. Es ist ein gut gemachter, wenn auch wenig subtiler Kunstgriff.

Die bemerkensw­erten Tanzszenen bleiben hängen, der Film als Ganzes jedoch nicht. Die Probleme der Story verhindern, dass „Fly“sich von vergleichb­aren Tanzfilmen absetzt. In einer Szene bezeichnet ein Teilnehmer des Resozialis­ierungspro­gramms das Vorhaben der TanzGruppe als „Step Up: JVA-Edition“. Der ironische Kommentar passt als Fazit für den ganzen Film. Mit etwas mehr Mut hätte man ihn aus dieser Ecke heraushole­n können.

Sie träumt vom Fliegen und von Freiheit. Und sie findet es schließlic­h im Tanz.

„Fly“(Deutschlan­d 2021), 110 Minuten; R: Katja von Garnier; mit Svenja Jung, Ben Wichert, Jasmin Tabatabai, Nicolette Krebitz, Katja Riemann.

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FOTO: STUDIOCANA­L In einer Traumseque­nz des Films „Fly“wird die Zelle von Bex (Svenja Jung) überflutet.

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