Wenn Worte zu Verbrechen werden
Michel Friedman und Robert Habeck sprachen in Köln über alte und neue Ursachen des deutschen Antisemitismus.
Die Fieberkurve rahmt den Abend. Bei der Auftaktveranstaltung zur diesjährigen Lit Cologne in der Kölner Flora zum Thema „Wider den Judenhass“fragt Moderatorin Nele Pollatschek den jüdischen Publizisten Michel Friedman gleich zu Beginn, was sein Barometer zum Judenhass in Deutschland anzeige. Der frühere CDU-Politiker reagiert prompt und vermeldet einen Fieberschub auf 39 Grad – eine bedenkliche Temperatur. Friedman führt sofort aus, warum der Patient so krank sei: Mit der AfD habe eine Partei zum demoskopischen Höhenflug angesetzt, die in Deutschland die Demokratie zerstören wolle. „Sie sind im Bundestag, in allen Landtagen, und sie werden wiedergewählt“, führt Friedman aus. Und scharf rügt er die Wähler dieser zum Teil rechtsextremen Partei. „Mich interessieren nicht die Motive, nicht, ob es Protestwahl ist oder nicht. Eine Stimme für die AfD ist eine Stimme gegen die Demokratie“, bringt der Publizist und Wirtschaftsanwalt es auf den Punkt.
Bei so viel Eloquenz hat es selbst Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bisweilen schwer, zu Wort zu kommen. Der GrünenPolitiker ist aber Profi genug, um geschickt die Redepausen bei Friedman zu nutzen und seine Botschaften unter das Lit-Cologne-Publikum zu bringen. „Ich werde nicht ganz so lange reden“, beginnt der Vizekanzler, um dann doch seine Sicht über Antisemitismus und mangelnde Solidarität mit Juden in Deutschland ausführlich zu begründen. Und diese Sicht überrascht. Denn Habeck verlässt die wohlfeilen Solidaritätsbekundungen und stimmt Friedman zu. Tatsächlich sei die Empathie mit Jüdinnen und Juden auch nach dem mörderischen und pogromhaften Überfall der Hamas-Terroristen in Israel nicht sonderlich ausgeprägt gewesen. Das hätten ihm seine jüdischen Freunde eindringlich be
stätigt. „Wir blieben unter unseren Möglichkeiten“, räumt der gelernte Philosoph ein: „Das hat in mir gearbeitet.“
Gerade in jüngster Zeit konnten viele Bewegungen mit einem ernsten Anliegen die Bevölkerung in Deutschland wachrütteln. Die Klimabewegungen Fridays for Future und die radikalere Letzte Generation. Die Demos für Demokratie nach dem Treffen von Rechtsextremen und AfD-Politikern in Potsdam, bei dem über eine Deportation von Migranten nachgedacht wurde. Die Empörung über männliches Machtgehabe, ausgelöst durch die
„Me too“-Initiative. Nur die Juden, die gerade ihr schlimmstes Pogrom nach dem Völkermord der Nazis erlebten, fielen hinten herunter. Selbstkritisch räumt Habeck das ein.
Woher kommt nun dieser jahrhundertealte Judenhass, auch diese oft unbewusste Ablehnung des Jüdischen, die trotz vieler gut gemeinter Versuche einfach nicht verschwinden will? Friedman macht einen Global Player dafür teilweise verantwortlich: die Kirche. Sie hat die Botschaft von Jesus Christus erfolgreich in aller Welt verkündet und dabei mitgeliefert, dass der Gottessohn durch die Juden umge
bracht wurde. Habeck widerspricht dieser Deutung nicht. Er fügt aber weitere Gründe für den tief sitzenden Antisemitismus in westlichen Gesellschaften noch hinzu: neben dem völkischen, islamistischen und linken Judenhass gebe es auch den unreflektierten Antisemitismus einer „bürgerlichen Gemütlichkeit“, wie sich der Wirtschaftsminister ausdrückt.
Darin sieht Habeck auch etwas typisch Deutsches: „Nicht streiten, nicht diskutieren, nicht die Unterschiede aushalten“, attestiert er seinen Landsleuten. Er führt das zurück auf ein Erbe der Nationalsozialisten: „Es gibt das identitäre Denken eines Volkes. Dass alle einer Meinung sind. Das ist bequem. Aber das Gegenteil von streitbarer Demokratie.“Mit einem solchen Denken verbindet sich Ausgrenzung, gerade von Juden. Deren Kultur ist vom ständigen Dialog, vom Streit, von der Suche nach dem besseren Argument geprägt.
Für Friedman ist es dieser Stachel, der einer Mehrheitsgesellschaft wie der deutschen wehtut. Man kann deshalb gegen den Antisemitismus mit rationalen Argumenten wenig ausrichten. Er manifestiert sich in anderen Formen. „Der Judenhass
ist das Gerücht über Juden“, zitiert der Publizist den großen jüdischen Gesellschaftskritiker Theodor Adorno. Dann räumt er allerdings ein: Der Antisemitismus ist keine deutsche Erfindung. Die brutalst mögliche Konsequenz hingegen schon. „Auschwitz ist eine deutsche Erfindung“, donnert der Frankfurter Anwalt.
„Der Hass ist grenzenlos, der Übergang vom Wort zur Tat ist fließend“, sagt Friedman. Habeck stimmt auch hierin überein. Und beide sind auch überzeugt, dass nur die Stimme für die Demokratie dem Einhalt gebieten könne. „Die schlechteste Demokratie ist besser als die beste Diktatur“, bekennt Friedman. Denn gerade die Vielfalt und der Streit dämpfen diesen Erregungszustand, der sich gerade nach Ereignissen wie dem 7. Oktober 2023 wieder so wuchtig Bahn bricht. Und hier kommen auch wieder die Bewegungen für diese Demokratie ins Spiel. „Die sind nötig“, sind sich beide Diskutanten einig. Für Friedman ist es der Grund, warum das Thermometer nicht auf 39,1 Grad steht, sondern vorerst auf 39 Grad bleibt. „Ab da wird es aber gefährlich“, mahnt der Publizist.