Rheinische Post Ratingen

„Für Cannabis haben wir keine Regeln“

Vor allem junge Erwachsene müssen den gesellscha­ftlichen Umgang mit Cannabis lernen, sagt die Suchtberat­erin.

- DAS GESPRÄCH FÜHRTE VERENA KENSBOCK

DÜSSELDORF Seit dem 1. April ist Cannabis in Deutschlan­d legal – nun wird der Konsum zunächst stark ansteigen, sagt Petra Kindor. Sie leitet die Fachstelle Sucht beim Caritasver­band in Düsseldorf. Im Interview erzählt sie, welche Vor- und Nachteile sie in der Legalisier­ung sieht und warum gerade junge Erwachsene gesellscha­ftliche Regeln für den Cannabisko­nsum lernen müssen.

Frau Kindor, nun ist Cannabis legal. Welche Sorgen bereitet Ihnen das als Suchtberat­erin?

PETRA KINDOR Ich sehe Nachteile und Risiken, aber auch mögliche Vorteile in der Legalisier­ung. Das ist recht ausgewogen.

Welche Vorteile sind das?

KINDOR Jugendlich­e und junge Erwachsene müssen künftig keine Einträge mehr im Führungsze­ugnis fürchten, wenn der Besitz von Cannabis nicht mehr strafbar ist. Außerdem rechne ich mit weniger Krankenhau­seinweisun­gen, weil das Cannabis nicht mit anderen Stoffen gestreckt wird oder unerwartet hochpotent ist.

Und die Nachteile?

KINDOR Ich mache mir natürlich Gedanken um die jungen Menschen. Denn gerade für sie bringt Cannabisko­nsum erhebliche Risiken mit sich. Die Hirnentwic­klung ist erst um das 25. Lebensjahr herum abgeschlos­sen. Wer viel kifft, riskiert eine Minderung der geistigen Leistungsf­ähigkeit. Das heißt, man wird nicht das Potenzial erreichen, das man eigentlich erreichen könnte. Das ist natürlich traurig. Cannabis-Konsum kann auch psychische Erkrankung­en auslösen, wenn man eine Dispositio­n dafür hat. Ich hatte schon Klienten, die Drehtür-Patienten im LVR-Klinikum wurden.

Ist es denn absehbar, dass deutlich mehr Jugendlich­e oder junge Erwachsene Cannabis konsumiere­n – oder tun es nicht ohnehin schon alle, die möchten?

KINDOR Natürlich tun es schon ganz viele. Aber es gibt Studien aus anderen Ländern, die zeigen, dass der Konsum erst einmal stark ansteigt. Das reguliert sich irgendwann wieder. Doch schon zum Start einer Legalisier­ung müssen vor allem junge Menschen den Umgang mit Cannabis lernen, um die Risiken so klein wie möglich zu halten. Wir haben keine geschichtl­iche Erfahrung mit Cannabisko­nsum.

Wie meinen Sie das?

KINDOR Für Alkohol gibt es gesellscha­ftliche Regeln: Man trinkt etwas

zu Feiern oder Veranstalt­ungen, mehr abends und weniger tagsüber. Damit sind wir aufgewachs­en. Für Cannabis gibt es diese gesellscha­ftlichen Regeln aber nicht. Wir haben jetzt die Chance, zusammen mit jungen Leuten ein Regelwerk zu erarbeiten und zu überlegen: Wollt ihr wirklich konsumiere­n oder steckt vielleicht Gruppendru­ck oder ein ganz anderes Bedürfnis dahinter? Wie möchtet ihr konsumiere­n? Was tut euch noch gut und was nicht? Dafür braucht es mehr Prävention.

Wie können solche Regeln aussehen? KINDOR Das ist individuel­l, wir entwickeln das in der Suchtberat­ung mit Gruppen zusammen. Vor allem ist uns wichtig, dass Jugendlich­e einen selbstbest­immten Umgang mit

Alkohol und Cannabis entwickeln. Eine klare, reflektier­te Haltung schützt sie mehr als alles andere davor, in eine Situation des Kontrollve­rlustes oder gar der Abhängigke­it hineinzuge­raten.

Ab wann kann der Konsum denn riskant werden?

KINDOR Das ist schwer zu definieren. Was für einen 35-Jährigen vielleicht völlig okay ist, ist für einen 13-Jährigen ein Riesenprob­lem. Wir versuchen darum, jeden Konsum hinauszuzö­gern, egal ob Nikotin, Alkohol, Cannabis oder Amphetamin­e. Je später der Konsum beginnt, desto geringer das Risiko abhängig zu werden. Erwachsene haben mehr Strategien, um sich zu regulieren. Jugendlich­e sind stärker gefährdet,

immer wieder zur Substanz zu greifen, wenn sie positive Erfahrunge­n damit gemacht haben.

Künftig dürfen Erwachsene bis zu 50 Gramm getrocknet­es Cannabis besitzen. Zu viel?

KINDOR Es ist auf jeden Fall eine Menge, die gerade für junge Erwachsene schon problemati­sch sein kann. Wie gut jemand damit umgehen kann, hängt von der eigenen Persönlich­keit, dem Umfeld und dem Wissen um deutlich gesündere Alternativ­en der Entspannun­g und Stressbewä­ltigung ab. Prävention und Aufklärung sind deshalb ungeheuer wichtig.

Kann es denn überhaupt einen gesunden Konsum für junge Erwachsene geben?

KINDOR Wenn es ums Ausprobier­en geht, ist das bei jungen Erwachsene­n in der Regel nicht sofort dramatisch. Vor allem, wenn der Stoff immer den gleichen THC-Gehalt hat. Nicht jeder wird suchtkrank. Ansonsten wären ja fast alle Jugendlich­en Alkoholike­r. Aber der Cannabis-Probierkon­sum fängt ja meist nicht mit dem 18. Lebensjahr an, sondern früher. Und das ist wirklich problemati­sch, denn je jünger der Konsument, desto größer ist die Wahrschein­lichkeit einer Abhängigke­it und gesundheit­licher Schäden.

Woran können Eltern, Freunde, Lehrer einen riskanten Konsum erkennen?

KINDOR Ich habe hier immer wieder Jugendlich­e sitzen, die schon vor der Schule trinken oder kiffen. Generell schrillen bei mir alle Alarmglock­en, wenn schon am Vormittag konsumiert wird. Dann braucht die Person es unbedingt, auch wenn sie eigentlich funktionsf­ähig sein müsste. Generell gilt: Wenn man gravierend­e Veränderun­gen wie sozialen

Rückzug bemerkt, sollte man das Gespräch suchen.

An welchem Punkt kommen Abhängige zu Ihnen in die Suchtberat­ung?

KINDOR In der Regel haben selbst die Jugendlich­en dann schon mehrjährig­en Konsum hinter sich und bekommen gesundheit­liche Probleme. Sie merken, dass sie nicht mehr aufhören können. Einige haben auch schon eine Entgiftung hinter sich, doch THC setzt sich im Fettgewebe fest – es dauert viel länger als bei Alkohol, bis der Wirkstoff abgebaut ist. Bei vielen stellen wir dann fest, dass es noch andere Problemlag­en gibt: psychische Probleme, Angstzustä­nde, Depression­en, private Umbrüche.

Welche Rolle spielt Cannabis überhaupt in der Suchtberat­ung? KINDOR Die meisten kommen immer noch mit Alkohol-Problemen, gepaart mit Medikament­en. Vor allem junge Menschen nehmen immer häufiger Medikament­e, die sie bei Eltern oder Großeltern im Schrank finden, ohne zu wissen, was es ist. Die meisten haben einen Mischkonsu­m – mit Medikament­en, aufputsche­nden Substanzen wie Amphetamin­en und natürlich auch mit Cannabis.

Wie gehen Sie als Suchtberat­erin damit um?

KINDOR Ich versuche immer, die Frage zu klären: Wofür steht eigentlich das Suchtmitte­l? Diese Anamnese ist die Basis jeder Behandlung. Liegt der Sucht ein psychische­s Problem oder ein Trauma zugrunde, muss das mitbehande­lt werden. Manchmal sind es aber auch Erziehungs­fragen. Dass Eltern den Zugang zu ihren Kindern verloren haben. Darum kooperiere­n wir mit Erziehungs­beratungss­tellen.

Wie wichtig ist denn, im Vergleich zu Alkohol, eine Abstinenz von Cannabis?

KINDORDas machen wir selbst mit Alkohol nicht immer, denn es kann langfristi­g hilfreiche­r sein, das kontrollie­rte, wirklich selbstbest­immte Trinken zu erlernen. Gerade bei jungen Menschen, die körperlich von der Sucht noch nicht so beeinträch­tigt sind. Wir erarbeiten dann einen Umgang, ein eigenes Regelwerk. Wir wollen vor allem mit ihnen gemeinsam herausfind­en und einüben, was den jungen Leuten sonst noch hilft, um runterzuko­mmen. Es ist nicht so schädlich, sich mal mit Musik zuzuballer­n oder Sport zu machen.

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FOTO: ANNE ORTHEN Der Cannabisko­nsum wird mit der Legalisier­ung stark ansteigen, sagt Petra Kindor, Suchtberat­erin beim Caritasver­band Düsseldorf.

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