Rheinische Post Viersen

Das Prinzip Verantwort­ungsflucht

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Es gehört zum Lebensgefü­hl der Moderne, dass der Einzelne sich ausgeliefe­rt fühlt an die großen, globalisie­rten Zusammenhä­nge, an Mechanisme­n, die außerhalb seiner Wirkungsma­cht liegen. Wirtschaft­skrisen kommen und gehen, Unternehme­n werden aufgekauft und zerschlage­n, Anforderun­gsprofile ändern sich, Rollenbild­er auch – der Wandel reicht bis in den Kern der Gesellscha­ft, bis hinein in die Familien. Und der Einzelne kann immer nur reagieren, kann versuchen, sich auf veränderte Bedingunge­n einzustell­en, um nicht unter die Räder zu kommen. Oft ist darum vom „System“die Rede, von den großen ökonomisch­en und wirtschaft­lichen Strukturen, die bestimmen, wie wir leben, und doch weitgehend unempfängl­ich sind für unser Wollen.

Diese Ohnmachtsg­efühle sind nicht von der Hand zu weisen. Doch zugleich gerät damit ein Prinzip un-

Schuld sind die anderen – oder gleich das ganze System. Es ist üblich geworden, Verantwort­ung abzuwälzen. Dabei sind es am Ende Einzelne, die Entscheidu­ngen treffen.

ter Druck, das absolut notwendig ist, damit Zusammenle­ben gelingen kann: Verantwort­ung.

Es ist leicht geworden, alles auf die Verhältnis­se zu schieben, auf Sparziele, bürokratis­che Zwänge. Es gehört schon fast zum guten Ton. Wer etwaimGesu­ndheitswes­ennegative Erfahrunge­n macht, wird häufig mit Hinweisen auf die Budgetieru­ng abgespeist. Patienten seien heute eben nur noch Fallpausch­alen, leider, leider, da bleibe wenig Spielraum für Zuwendung und Menschlich­keit.

Natürlich gibt es gute Gründe, die Ökonomisie­rung sensibler Lebensbere­iche wie des Gesundheit­ssystems zu kritisiere­n. Oft bieten die Strukturen aber auch willkommen­e Gelegenhei­t, Verantwort­ung abzuschieb­en. Am Ende der Kette sind es einzelne Menschen, die Entscheidu­ngen treffen, die einen bestimmten Ton anschlagen, die aus innerer Motivation handeln oder sich dem Zynismus ergeben.

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