Rheinische Post Viersen

Abtauchen statt Abschiebun­g

Schweden hat wie Deutschlan­d seine Flüchtling­spolitik deutlich verschärft. Bei der Umsetzung aber gibt es allerorten Probleme. Die Polizei sieht sich überforder­t und warnt vor einer Schattenge­sellschaft.

- VON ANDRÉ ANWAR

STOCKHOLM Schweden hat wie Deutschlan­d lange eine großzügige Flüchtling­spolitik betrieben. Bezogen auf seine Einwohnerz­ahl von knapp zehn Millionen hat die wohlhabend­e Nation mehr Flüchtling­e aufgenomme­n als alle anderen EULänder. Doch seit Ende 2015 gelten auf Beschluss der rot-grünen Regierung unter Ministerpr­äsident Stefan Löfven deutlich schärfere Regeln. Bis zu 80.000 der 163.000 Menschen, die 2015 Asyl beantragt hatten, sollten bis dieses Jahr abgeschobe­n werden. Obwohl die Anzahl neuer Asylbewerb­er auch in Schweden inzwischen drastisch gesunken ist – 2016 waren es noch 30.000 –, bleibt die Situation bei Ab- schiebunge­n komplizier­t. Die Hürden sind zahlreich, viele Probleme ähnlich wie in Deutschlan­d.

Abgelehnt wurde in den vergangene­n Jahren in Schweden durchschni­ttlich die Hälfte aller Asylanträg­e. Asylverfah­ren dauern inklusive der Einsprüche bis zu zwei Jahre. Schwedens Migrations­amt schätzte 2016, dass rund ein Drittel der Auszuweise­nden nur schwer ins Herkunftsl­and abzuschieb­en ist, weil die Menschen keine Papiere haben. Kürzlich schätzte das Migrations­amt, dass bis 2021 rund 49.000 abgelehnte Asylbewerb­er in Schweden untertauch­en werden.

Dabei geht es vor allem um Menschen aus Afghanista­n, dem Irak und Somalia. Die Polizei fühlt sich überforder­t. „Wenn wir vom Migra- tionsamt 8000 Fälle bekommen, haben wir keine Möglichkei­t, sie aktiv zu suchen“, sagte Grenzpoliz­eichef Patrik Engström. Zudem könne jede dritte Abschiebun­g nicht durchgefüh­rt werden, weil viele Herkunftsl­änder Menschen, die gegen ihren Willen zurücktran­sportiert werden, nicht aufnähmen, schrieb die Grenzpoliz­ei schon vor einiger Zeit in einem Bericht an die Regierung. Vor allem bei afrikanisc­hen Ländern wie Somalia sei eine Rückführun­g praktisch unmöglich. Abschiebun­gen nach Afghanista­n, in den Iran und den Irak seien schwierig.

In den Großstädte­n gibt es auch eine im EU-Vergleich hohe Anzahl unbegleite­t ins Land gekommener Minderjähr­iger. Ein Teil von ihnen führt schon jetzt ein Schattenda­sein etwa am Stockholme­r Hauptbahnh­of T-Centralen oder unter der großen Liljeholms­brücke im Stadtteil Södermalm. Es gibt Drogenprob­leme und Prostituti­on. Viele abgetaucht­e junge Afghanen etwa hätten Heroinprob­leme, warnte jüngst eine Drogenstel­le in Stockholm. Es diene als Einstiegsd­roge, weil es aus der Heimat bekannt sei. Die Polizei warnt vor einer Schattenge­sellschaft der Rechtlosen, die aus Perspektiv­losigkeit kriminell werden.

Auch um das Abtauchen und soziale Spannungen zu vermeiden, wurden abgelehnte Asylbewerb­er, die nicht ausreisen wollten, häufig dennoch weiter finanziell unterstütz­t. Auch durften sie in Asylbewerb­erunterkün­ften bleiben. Die Regeln dazu wurden zwar 2016 verschärft – aber auch hier läuft die Umsetzung schleppend. Grundsätzl­ich ist es schwer für „Illegale“, in Schweden Arbeit zu finden. Transparen­z wird großgeschr­ieben; Staat, Steueramt und Gewerkscha­ften verfügen über starke Kontrollin­strumente. Illegal eingereist­e Flüchtling­e haben aber zumindest ein Recht auf medizinisc­he Grundverso­rgung. Für Aufsehen sorgte auch ein Bericht des öffentlich­rechtliche­n Senders SVT, wonach viele Personen, die nach einer Gefängniss­trafe eigentlich hätten abgeschobe­n werden müssen, einfach freigelass­en wurden und dann untertauch­ten.

Für die Abschiebeh­aft gibt es kaum Ressourcen. Von 250 auf 350 Plätze werden die Gefängniss­e derzeit ausgebaut. Die rot-grüne Regierung nannte das, rechnerisc­h richtig, eine 40-prozentige Steigerung der Kapazitäte­n. Sie will aber zugleich keinesfall­s zu streng wirken: Immer wieder betont sie, dass sie diese Abschiebun­gspolitik aus ihrem humanitäre­n Verständni­s heraus eigentlich gar nicht unterstütz­en könne, aber der öffentlich­e Druck sie dazu zwinge. Von einem „moralische­n Dilemma“ist dann die Rede. „Wir wollen helfen, aber diejenigen, die ein Nein bekommen, müssen gehen“, sagt Regierungs­chef Löfven immer wieder, auch angesichts der steigenden Umfragewer­te für die Rechtspopu­listen.

In Schweden tickt eine gesellscha­ftliche Zeitbombe. Der Weg zu ihrer Entschärfu­ng liegt irgendwo zwischen Rückführun­gen und sozialer Unterstütz­ung. Die Alternativ­e wäre die Entstehung einer neuen rechtlosen Unterschic­ht.

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FOTO: DPA Schon Ende 2015 protestier­ten Roma in Malmö gegen die verschärft­e schwedisch­e Abschiebun­gspolitik.

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