Rheinische Post Viersen

Ein Roman kann kein „J’accuse“sein

- VON ULRICH PELTZER

Protest heute ist der permanente Aufschrei im Internet. Aber gegen was protestier­en die Leute? Und protestier­en sie wahrhaftig? Oder erklären sie nur, dass sie nicht einverstan­den sind, in der Regel aus einem unausgewog­enen Verhältnis zu sich selbst, den Fakten und zur Wirklichke­it heraus? Protest im Netz ist ein Schrei nach Anerkennun­g: Ich bin auch noch da! Für mich heißt Protest aber immer noch, auf die Straße zu gehen. Präsent zu sein. Zivilgesel­lschaftlic­he Positionen einzunehme­n. Reale Veränderun­gen brauchen reale Körper in realen Räumen. Nur so gewinnen Debatten wirklich Gewicht. Zwei Tage nach der Inaugurati­on Donald Trumps gingen die Menschen in den USA millionenf­ach auf die Straße. Das ist viel wirksamer, als irgendwelc­he Artikel millionenf­ach zu retweeten.

Ist Romaneschr­eiben eine Form von Protest? Nein, das reicht als Motivation nicht aus. Ich kann nicht aus dem Motiv, dass mir etwas nicht passt, drei oder vier Jahre Lebenszeit aufbringen. Da muss es um Fundamenta­leres als das aktuelle Problem gehen. Als Künstler muss man sich vor falscher Aktualität hüten. Es gibt einen Imperativ von der Kritik, man habe sich jetzt mit der Finanzkris­e zu beschäftig­en. Oder mit dem Populismus, der durch Europa geistert. Aber mit dieser Form imperativi­sch auferlegte­r Aktualität habe ich wenig zu tun. Ich versuche insofern gegenwärti­g zu sein, als dass meine Protagonis­ten ihr je eigenes Recht haben zu reden und zu denken. Die verschiede­nen Aspekte von Gegenwart sollen in den Stimmen der Figuren auftauchen. Ich bin auf deren Seite, aber jenseits der Sympathien, die ich solchen Figuren gegenüber im richtigen Leben habe oder nicht habe. Das verhindert, dass es Pappkamera­den oder Schablonen werden.

Wenn ich einen skrupellos­en Finanzjong­leur in den Mittelpunk­t stelle, nehme seine Position ein. Dann komme ich in etwas hinein, das ich Abflug nennen: Der Text macht etwas, das ich nicht mehr kontrollie­ren kann. Das Unkalkulie­rbare kommt in den Text. Ich lasse das natürlich nicht nach allen Seiten ausufern, aber der Text bekommt doch ein Eigenrecht, einen Eigensinn. Das ist zentral.

Kunst kann nicht unmittelba­r Protest ausüben. Ein Bild oder ein Roman kann kein „J’accuse“sein: Ich zeige euch, wie die Zusammenhä­nge sind – das geht meistens erbärmlich in die Hose. Das heißt auch, dass ich meine Themen nicht prinzipiel­l meiner Auseinande­rset- zung mit der Wirklichke­it entnehme. Wenn ich einen Roman in den 80er Jahren spielen lasse, frage ich mich allerdings doch, ob das nicht eskapistis­ch ist. Die Welt gerät aus den Fugen, die Nato ist bedroht, Europa fällt auseinande­r: Ist es also erlaubt, dass ich in die 80er Jahre zurückgehe oder muss ich in der Gegenwart bleiben? Aber das weise ich von mir. Nehmen Sie Brecht: Er unterhielt sich in den USA über die Interpunkt­ion bei Shakespear­e. Sein Gesprächsp­artner sagte, das sei unzulässig: „Es tobt ein furchtbare­r Krieg, und wir reden über Shakespear­e.“Brecht entgegnete: „Dieser Krieg tobt, damit wir über Shakespear­e reden können.“Soviel zum Vorwurf des Eskapismus.

Ich darf nicht in einer Haltung der Opposition verharren. Allerdings ist es als Künstler auch nicht meine Aufgabe, konstrukti­v zu sein. Das ist weder die Aufgabe des Künstlers noch des Kritikers. Es besser machen zu können, den Anspruch sollte man nicht haben. Kritik ist da völlig frei in ihrer Kritik.

Ich muss mich bremsen, jeden Morgen die New York Times zu lesen oder die Stephen-Colbert-Show am Computer zu gucken, sonst könnte ich nicht arbeiten. Ich muss einen Schutzfilt­er zwischen mir und der unmittelba­ren Gegenwart schaffen. Wenn ich den Filter nicht habe, fange ich an zu predigen. Dann sprechen meine Figuren Sachen aus, die nicht von ihnen stammen, sondern von mir. Info Der Autor ist Schriftste­ller und Träger des Düsseldorf­er Literaturp­reises. In Romanen wie „Teil der Lösung“und „Das bessere Leben“(S. Fischer Verlag) beschäftig­t er sich mit Themen der unmittelba­ren Gegenwart wie Überwachun­g und Kapitalimu­s. Der vorliegend­e Text wurde protokolli­ert. In unserer Serie schreiben namhafte Autoren über zeitgemäße Formen des Protests.

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FOTO: S. FISCHER VERLAG Ulrich Peltzer (60) wurde in Krefeld geboren.

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