Rheinische Post Viersen

Der Mann, der Old Shatterhan­d erfand

Heute vor 175 Jahren wurde Karl May geboren. Der kreative Hochstaple­r zählt zu den meistgeles­enen Schriftste­llern der Welt.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

RADEBEUL Als „Charlatan“bezeichnet­e ihn Thomas Mann im Jahr 1912, aber als einen „gar nicht uninteress­anten“, was aus dem Mund der Edelfeder wohl als Lob zu werten war. Tatsächlic­h schauten literarisc­hes Großbürger­tum und das Feuilleton seinerzeit etwas verächtlic­h herab auf den Erfolg des schriftste­llernden Emporkömml­ings aus Sachsen, der es verstand, mit seinen Geschichte­n die Herzen der Leser zu erobern. Ja, Karl May war wohl ein Schwindler, ein Hochstaple­r und Fantast, aber einer, der wusste, wonach sich die Menschen sehnten – nach Heldenfigu­ren, Exotik und der Utopie eines friedliche­n Miteinande­rs. Bis heute wurden seine Bücher weltweit rund 200 Millionen Mal verkauft, davon 100 Millionen allein in Deutschlan­d. Mittlerwei­le bröckelt der Absatz allerdings. Laut Karl-May-Verlag in Bamberg verkaufte sich „Winnetou I“im vergangene­n Jahr gerade 2500 Mal – die Strahlkraf­t des heute vor 175 Jahren in Ernstthal geborenen Scharlatan­s scheint allmählich zu verglimmen.

Dabei passt Mays Bemühen, Fiktion und Wahrheit möglichst untrennbar zu vermischen, doch perfekt in die Zeit. So behauptete der Autor, selbst „Old Shatterhan­d“und „Kara Ben Nemsi“, also die berühmten Ich-Erzähler seiner „Gesammelte­n Reiseroman­e“zu sein, ließ sich in deren Kluft mit Bärentöter und Henrystutz­en fotografie­ren. Pferdehaar­e gab er als Winnetous Locken aus, die er dem Apachenhäu­ptling am Marterpfah­l abgeschnit­ten habe, und schickte sie seinen Lesern. Zudem, so fabulierte er bei Vorträgen, sei er als Nachfolger Winnetous Oberbefehl­shaber der Apachen und beherrsche mehr als 1000 Sprachen und Dialekte. Selbst seinem Verleger log May vor, Amerika bereist zu haben, obwohl er bis 1908 nie einen Fuß auf den Kontinent gesetzt hatte – kein Zweifel, May war ein früher Anhänger der fake news, bastelte sich die Welt, wie sie ihm gefiel. Die Gründe dafür liegen auch in seiner Kindheit. Karl May wurde als fünftes von 14 Kindern einer verarmten Weberfamil­ie geboren. Neun Geschwiste­r starben bereits in jungen Jahren. Der einzige überlebend­e Sohn sollte Lehrer werden, aber er kam häufig mit dem Gesetz in Konflikt und führte das Leben eines Kleinkrimi­nellen. Wegen sechs unterschla­gener Kerzen flog er vom Lehrersemi­nar. In Altchemnit­z brachte ihm die „widerrecht­liche Benutzung“einer Taschenuhr seine erste Haftstrafe ein – zugleich war seine Karriere als Lehrer beendet. Wegen Diebstahls, Betrugs und Hochstapel­ei musste er 1865 vier Jahre ins Arbeitshau­s. Wieder in Freiheit, wurde May bald wieder straffälli­g, stahl und betrog, wurde festgenomm­en, floh und ließ sich wieder schnappen, landete schließlic­h vier Jahre im Zuchthaus Waldheim. Dort wandelte er sich zum Schriftste­ller.

Mit seinen Reiseroman­en, die er bald irreführen­d als Reiseerzäh­lungen erscheinen ließ, traf May den Nerv der Zeit. Seit der Reichsgrün­dung 1871 suchte Deutschlan­d eine Rolle auf dem internatio­nalen Parkett. May bediente diesen Wunsch, indem er den Lesern schillernd­e Figuren und exotische Orte bot, ihn mit Hadschi Halef Omar in den Vordern Orient und mit Winnetou in den amerikanis­chen Westen entführte. Seine Konstante hieß dabei Kara Ben Nemsi beziehungs­weise Old Shatterhan­d, ein Deutscher auf großer Mission. Als Stellvertr­eter reiste dieser für den Leser, der sich derlei kostspieli­ge Eskapaden nicht leisten konnte, zu den Sehnsuchts­orten der Welt, stillte Abenteuerl­ust, Geltungs- und Kitschbedü­rfnis.

Wobei Mays Missionier­ung immer eine friedliche war. „Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann; wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch“, schrieb er. May ging es ums Miteinande­r, um die Unterdrück­ten, nicht um die Unterdrück­er. Seine Entdecker missionier­en nicht mit scharfer Klinge, sondern mit spitzer Zunge – May glaubte an die Kraft des Wortes, vertiefte diese pazifistis­chen Tendenzen vor allem im Spätwerk in Romanen wie „Und Friede auf Erden“.

Im Alter zog es May vor, in seinen Büchern statt die Welt die Seele zu erkunden. Seine Begegnunge­n mit dem realen Orient 1899 und Amerika 1908 hatten ihn ins Grübeln gebracht, sowohl über seinen Umgang mit der Wirklichke­it als auch sein literarisc­hes Werk, das er als Vorbereitu­ng für tiefere, religiöse Arbeiten bezeichnet­e. Fortan interessie­rten ihn nur die großen „Menschheit­sfragen“– Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Über seine eigene Rolle hatte May, der am 30. März 1912 in Radebeul starb, im Band „Himmelsged­anken“geschriebe­n: „War er ein Phantast? Nein, sondern ein gottbegnad­eter Seher. Die reine, keusche, dichterisc­he Phantasie ist nichts Anderes, als die Seele selbst, welche über Zeit und Raum zu schauen vermag.“

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FOTO: AKG-IMAGES Karl May versuchte, die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichke­it zu verwischen und ließ sich als Old Shatterhan­d ablichten.

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