Die Diamanten von Nizza
Er, der auf dem Schulhof immer abseits gestanden hatte, der nie auch nur in den Dunstkreis der hübschen Mädchen gekommen war, die angesagten Bands und neuesten Chansonhelden nicht kannte, der immer jeden Franc und später jeden Cent umdrehen musste, nie mehr als ein-, zweimal im Monat ausgehen konnte, an dem das Leben immer so sehr vorbeigerauscht war, dass er sich die haarsträubenden Abenteuer seines jüngeren Bruders nicht einmal hatte vorstellen können, er, Jacques Pigeat, führte mittlerweile eine fast schon romanhafte Existenz. Und doch war es ein völlig abgezirkeltes Leben. Gewiss, zwei, drei Mal im Monat spielte er den Sommelier im herrschaftlichen Salon, öffnete auf dem Guéridon, dem Beistelltisch, den Wein so, dass das Etikett gut lesbar war, durchschnitt mit dem Messer die Kapsel, entkorkte die Flasche fachgerecht, zeigte dem Gast den Korken, schenkte ihm erst zum Probieren ein, um dann, auf ein zustimmendes Nicken, erst den weiblichen, dann den männlichen Tischgästen einzugießen, wobei er darauf achtete, immer von rechts an den Gast heranzutreten. Während dieser Prozeduren hörte er sich an, wie die Herrschaften angeregt schwadronierten, über Terrorgefahr, über das Erstarken der Front National, das sie erschrak, aber doch auch diffus faszinierte, über rückläufige Beschäftigungszahlen und das Überhandnehmen der Bürokratie – das ersetzte zwei Wochen Zeitungslektüre und das Durchforsten diverser Blogs. Lieber hörte er sich die intimeren Geständnisse der Signoria Castellaci an. Er vergnügte sich wieder mit ihr, so gut es ging, sie betäubten sich zusammen, genossen den Rausch, und doch lebte er in gewisser Weise wie ein Elefant in einem Zoo – immer die gleichen Gesichter, die gleichen Runden, die gleichen Aktivitäten. Diese Elena Morales hingegen lebte gestern in Los Angeles, heute in Marseille, flog zwischendurch geschäftlich nach Paris, machte niemandem etwas vor, war einfach, selbst als Versicherungsagentin, ganz sie selbst und konnte Menschen, die in anderen Kreisen als sie verkehrten, schnell einschätzen. Sie hatte sofort gemerkt, dass irgendetwas mit ihm in diesem Haus nicht stimmte. Sie hatte sofort eine über das normale Maß hinausgehende Beziehung zwischen ihm und seiner Dienstherrin gespürt, da war er sich sicher. Er wusste, eine falsche unbedachte Äußerung, und sie würde alles herausfinden. Alles? Aber was war überhaupt
Die Antwort darauf zu finden war schwer, und je länger er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde Jacques, dass die Quelle seiner Unsicherheit eigentlich Marcella Castellaci war. Er wusste nicht mehr genau, woran er bei ihr war. Der fortwährende Kokainkonsum hatte sie verändert. Nicht nur, dass ihr häufig die Nase blutete. Sie war sprunghafter, unberechenbarer geworden, spontaner. Die in sich ruhende Elena Morales vervielfachte nur die Unsicherheit, die er gegenüber der Signora seit Neuestem empfand. Immer wieder ging er auf Distanz zu ihr, was sie scheinbar ungerührt hinnahm, bis sie wieder einen Weg fand, ihn einzufangen.
Was war das gestern gewesen? Eine romantische Aufwallung? Die Signora hatte ihn in einen Zustand vollkommener Rührung versetzt. Sie hatte sich tatsächlich daran erinnert, dass es der zweite Jahrestag
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der Ermordung seines Bruders war. Sie hatte sich gemerkt, dass er diesen Tag im Jahr zuvor auf besondere Weise begangen hatte.
Sie war um elf zu ihm ins Zimmer hochgekommen, hatte ihm gesagt, „Ich weiß, woran Sie heute denken, Jacques“, und ihn die Stufen hinunter, aus dem Haus zum Auto geführt. Marcella Castellaci hatte sich selbst ans Steuer gesetzt und war mit ihm die Promenade des Anglais entlanggefahren, vorbei am Theatre de Verdure zum Quai des Etats-Unis. Sie hatte im Parkverbot gehalten, ihn am Arm genommen und in die Chapelle de la Miséricorde geführt, die Kirche der barmherzigen Jungfrau. Ehrfürchtig hatten sie beide vor einem Altar aus dem frühen 15. Jahrhundert gestanden und sich von dem Madonnenbild von Bréa geradezu hypnotisieren lassen. Die Signora hatte ein Kerze angezündet, sie ihm gegeben und ihn eine Viertelstunde allein gelassen mit seiner Trauer, seinem Gedenken, indem sie die Kapelle verließ und draußen wartete. Noch nie hatte er sich so ernst von einer Person genommen gefühlt. Vor seinem inneren Auge waren Erinnerungen aufgetaucht, wie er mit seiner Schwester, seinem dreizehn Jahre jüngeren Bruder Emile und den Eltern am Strand spielte, auch wenn niemand von ihnen auch nur ein bisschen schwimmen konnte, wie er in ihrem klapprigen roten Fiat die Grande Corniche entlang gefahren waren, sechs Kilometer östlich von Marseille nach Villefranche, das von olivenbestandenen Hügeln gesäumte Dorf, wo die Sonne so warm schien und das Klima so mild war, dass dort Bananen wuchsen und gediehen, wie sie nach einem guten Monat, wie die Mutter es nannte, wenn mehr Leute als gewöhnlich in ihrem Laden kauften, mit dem Zug, dem
zwei Stunden nach Digne gefahren waren, vorbei an Aprikosen- und Olivenhainen, den Duft von Lavendel in der Nase, um ein Städtchen zu besichtigen, in dessen Gassen keine Autos passten. Schließlich hatte Jacques sich geradezu gewaltsam aus diesen Erinnerungen gerissen, hatte die Kapelle verlassen und die Signora hatte ihn wieder an die Promenade geführt und ihn gefragt, wie man diese Bucht nenne.
„ – die Bucht der Engel“, hatte er mit belegter Stimme gesagt.
„Sind hier nicht früher auch die italienischen Einwanderer zu Hause gewesen?“
Er nickte nur. „Meine Eltern hatten hier früher einen Gemüse- und Obstladen.“
Die Signora deutete aufs Meer hinaus. „Da liegt Cap d’Antibes, man kann es sehen und, manchmal sieht man bei guter Sicht tagsüber Korsika, nicht wahr. Heute erahne ich es nur. Meine beste Schulfreundin lebt dort, wie ich vor ein paar Wochen zufällig herausgefunden habe. Sie könnte uns Tipps geben. Wenn wir einfach verschwänden, würde Ettore alle Flughäfen, alle Bahnhöfe überprüfen, aber die Fähre nach Korsika würde ihm niemals in den Sinn kommen. Dort gibt es noch Dörfer, die völlig aus der Welt gefallen sind, wohin kein Fremder seine Schritte lenkt. Wir wären frei.“„Frei?“„Wir könnten uns ein Haus kaufen.“„Von dem Weinkeller?“„Nein, den nehmen wir mit.“„Aber wovon? Haben Sie die Diamanten wiedergefunden?“
(Fortsetzung folgt)
train de pignes, La Baie des Anges