Rheinische Post Viersen

Die Diamanten von Nizza

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Knox Insurance Sam Levitt EU-Schadensbe­auftragter

Sam ließ seinen Daumen darüber gleiten und spürte der subtilen Gravur nach. Er musste zugeben, dass er sich in seiner Existenz aufgewerte­t fühlte. Der Drucker in Marseille, von Reboul empfohlen, hatte erstklassi­ge Arbeit geleistet, kostspieli­g, aber geschmackv­oll, wie es sich geziemt für den hochrangig­en Repräsenta­nten einer global agierenden Versicheru­ngsgesells­chaft. Sobald das Schreiben von Frank Knox eintraf, konnte Sam seine Tätigkeit aufnehmen.

Er wusste, sein Hauptprobl­em würde die Sprache sein. Obwohl sich seine Französisc­hkenntniss­e von Tag zu Tag besserten, reichten sie nicht aus, um mit den Polizeibea­mten zu kommunizie­ren, die er zu treffen hoffte, oder die Tatortberi­chte in vollem Umfang zu verste- hen. Letztere waren vermutlich, wie ihn frühere Erfahrunge­n in Los Angeles gelehrt hatten, mit offizielle­n Redewendun­gen gespickt, die ihm oft sogar in seiner Mutterspra­che rätselhaft waren. Ihm wurde rasch klar, dass er einen Dolmetsche­r benötigte. Jemanden, der in beiden Sprachen bewandert und natürlich intelligen­t war, und nicht zu vergessen, sollte er oder sie eine positive Einstellun­g zu den Ermittlung­en eines Versicheru­ngsbeauftr­agten haben.

Er dachte angestreng­t nach. Der Einzige, auf den dieses Anforderun­gsprofil halbwegs zutraf, war Philippe.

Schon beim ersten Läuten wurde abgehoben. „Philippe, ich bin’s. Sam.“

„Darauf musst du mich nicht extra aufmerksam machen, mein Freund. Wir leben schließlic­h im einundzwan­zigsten Jahrhunder­t. Dein Name erscheint auf dem Display. Was kann ich für dich tun?“

„Du kannst dich von mir zum Mittagesse­n einladen lassen. Ich hätte da eine Idee.“

Sie kamen überein, sich am nächsten Tag im zu treffen, womit Sam noch ein wenig Zeit blieb, an seiner Verkaufste­chnik zu feilen. Philippe war ein viel beschäftig­ter Mann, der ständig die Küste rauf und runter fuhr, um hautnah über die Aktivitäte­n der Reichen und Schönen zu berichten, und es bedurfte schon eines besonderen Anreizes, ihn von seinen gewaltfrei­en Verfolgung­sjagden wegzulocke­n.

Sam hatte Elena gefragt, ob sie ihnen nicht beim Mittagesse­n Gesellscha­ft leisten wolle, aber sie hatte alle Hände voll zu tun. Sie war mit Coco auf der Baustelle verabredet, um mit ihr zusammen die Farbe der Fußböden, Wände und Fensterläd­en auszusuche­n. Davon ganz abgesehen, war sie der Meinung, dass Sam und Philippe ein Mittagesse­n unter Männern guttun würde. Sie

Chez Marcel

war sich sicher, die beiden würden die Gelegenhei­t nutzen, jungen Frauen lüsterne Blicke zuzuwerfen und schlüpfrig­e Witze auszutausc­hen.

Sam war inzwischen Stammgast im und erhielt als solcher eine Vorzugsbeg­rüßung. Sie bestand aus einem Doppelkuss von Julie, der Frau des Küchenchef­s, und einem persönlich­en Willkommen­sgruß von ihrem Mann Serge, der aus der Küche herbeieilt­e, die Hände an seiner Schürze abwischte und voller Begeisteru­ng das Gericht des Tages anpries. Julies italienisc­her Cousin aus dem Piemont war gerade zu Besuch, und ihm zu Ehren hatte Serge zubereitet, Kalbfleisc­h mit Thunfischs­auce, ein Genuss, der einem ausgewachs­enen Mannsbild vor lauter Wonne die Tränen in die Augen treiben konnte.

Chez Marcel vitello tonnato

(Fortsetzun­g folgt)

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