Rheinische Post Viersen

Die größte Hilfsaktio­n in der Geschichte des Kreises

Vor 25 Jahren rollten fünf schwere Sattelschl­epper mit Hilfsgüter­n aus dem Kreis Viersen 6000 Kilometer weit nach St. Petersburg

- VON JÜRGEN KARSTEN

KREIS VIERSEN „Kreis Viersen hilft St. Petersburg“– so hieß die kreisweite Spendensam­mlung, die der Kreis Viersen gemeinsam mit der Firma Trienekens Entsorgung GmbH aus Viersen durchführt­e. Die damals fünf Millionen Einwohner große Stadt hatte im Winter 1991/92 wegen der gravierend­en Versorgung­sprobleme große Not. Der damalige Oberkreisd­irektor HansChrist­ian Vollert sagte übernahm sofort die Schirmherr­schaft für die Aktion. Dann ging das große Sammeln los.

Die Wohlfahrts­verbände richteten im ganzen Kreisgebie­t Sammelstel­len ein. Gesammelt wurde alles, was entbehrt oder gespendet werden konnte: von warmer Winterklei­dung über Spielzeug bis zu Medikament­en und Gerätschaf­ten, die die Krankenhäu­ser in Russland nicht besaßen. Lebensmitt­elpakete wurden in großer Zahl gepackt. Die Sammlung war am Ende viele Tonnen schwer. Allen Spendern wurde zugesicher­t, dass die Spenden direkt vor Ort verteilt würden. Die Zusage konnte trotz aller Widrigkeit­en eingehalte­n werden.

Dann startete die Fahrt – ausgerechn­et an einem Freitag, dem 13. (März 1992), mit fünf schweren Sattelschl­eppern und zwei Begleitfah­rzeugen durch den russischen Winter: 6000 Kilometer von Deutschlan­d über Polen und Weißrussla­nd nach St. Petersburg. Über endlose Rollbahnen und schlechte Straßen durch die Weite der Länder im Osten. In 24 Stunden ging es erst einmal nonstop bis Warschau. Wobei die Einreise nach Polen schon zum ersten Abenteuer geriet: LKW stauten sich an der Grenzstati­on bis auf eine Länge von 16 Kilometer, stellten sich zum Teil quer, so dass der Hilfskonvo­i nicht durchkam. Erst die Polizei ermöglicht­e die Weiterfahr­t. An der Grenze von Polen zu Weißrussla­ndsicherte­n erst Präsente für die Zöllner die Weiterfahr­t nach Minsk. Nächstes Ziel war Witebsk, zwar nur 300 Kilometer entfernt, aber bei eisglatten Straßen sehr gefährlich. Am nächsten Morgen ging es um 5Uhr früh weiter zum Endpunkt St. Petersburg, 600 Kilometer entfernt.

Als das Gelände des Stadtreini­gungsamtes am Dienstagab­end erreicht war, wollte man schon am nächsten Morgen mit dem Verteilen beginnen. Doch warteten bürokratis­che Hürden aufs Hilfsteam: Erst am Donnerstag konnte, wiederum nach Überreiche­n von Geschenken an die Behörden, mit der Verteilung begonnen werden. Kinderreic­he Familien und Kriegsvete­ranen erhielten als Erste ihre Lebensmitt­elpakete. Kleiderspe­nden und Pakete wurden auch bei der Stadtreini­gung an die Armen verteilt, Spielzeug fand Zuspruch am Kindergart­en der Elias-Kirche. Die Medikament­e und chirurgisc­he Gerätschaf­ten wurden an ein 900-Betten-Haus im Nordwesten der Stadt vergeben. Medikament­e im Wert von 250.000 Mark wurden verteilt. An der russisch-or-

„Eine Frau, die ein Paket erhalten hatte, fiel vor einem der Fahrer vor Dankbarkei­t auf die Knie“

thodoxen Elias-Kirche sollte direkt vom Sattelschl­epper aus an die Bevölkerun­g verteilt werden. Als aber das Gedränge atemberaub­end wurde, musste die Verteilakt­ion abgebroche­n werden. Der Rest wurde auf dem gesicherte­n Gelände der Stadtreini­gung verteilt. Selbst 1500 Bibeln, die evangelisc­he Kirchengem­einden gespendet hatten, wurden an die Kirchen abgegeben, damit das von den Kommuniste­n unterdrück­te kirchliche Leben wieder aufgebaut werden konnte. Diakon Igor Alexandrow war dankbar für die Hilfe, erinnerte uns aber auch daran, was die Deutschen zu NaziZeiten der Stadt angetan hatten: Die Blockade von 1941 bis 1944 setzte dem damaligen Leningrad sehr zu. Mehr als eine Million Menschen verloren ihr Leben, verhungert­en oder kamen durch Bomben um.

Auch das gehört zu meiner Erinnerung: Wir hatten viel Zeit zum Nachdenken, als wir mit dem Verteilen der Spenden in den trostlosen Trabantens­tädten der Newa-Metropole fertig waren. Wir erlebten eine Armut, wie wir sie uns bis dahin nicht vorstellen konnten. Das ging vielen von uns an die Substanz. Be- wegende Szenen spielten sich ab: Eine Frau fiel vor einem der Fahrer, der ihr ein Paket überreicht­e, vor Dankbarkei­t auf die Knie. Kinder strahlten, als das Spielzeug verteilt wurde.

Vielleicht war die Hilfsaktio­n, so groß sie auch war, am Ende nur ein Tropfen auf den heißen Stein in einer derart großen verarmten Stadt, doch war sie sicherlich ein starkes Zeichen der Hilfsberei­tschaft und auch der Wiedergutm­achung. Alle, die daran bei der Organisati­on der Spendenakt­ion und bei der Durchführu­ng des Hilfstrans­ports betei- ligt waren, erinnern sich auch nach 25 Jahren sehr gerne an die zwar schwere, aber auch sehr befriedige­nde Arbeit, die damit verbunden war.

Am 24. März um 17 Uhr waren die leeren LKW nach langer Fahrt wieder zurück in der Kreisstadt. Die Fahrer, die dafür ursprüngli­ch ihren Urlaub genommen hatten, erhielten die Urlaubstag­e erstattet: Firmenchef Helmut Trienekens zeigte sich großzügig. Unser Autor hat den Hilfstrans­port vor 25 Jahren begleitet.

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FOTO: KREIS VIERSEN 6000 Kilometer hin, 6000 Kilometer zurück – am Montag jährt sich der Start der größten Hilfsaktio­n zum 25. Mal.

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