Rheinische Post Viersen

Würmer, Schlick und wunde Füße

- VON BIRGITTA VON GYLDENFELD­T

Die nackten Füße versinken langsam im Schlick. Der Blick ist in die Ferne gerichtet, irgendwo schreit ein Vogel. Wenige hundert Meter entfernt vom Deich steht eine Gruppe Menschen frühmorgen­s im Watt vor Dagebüll. Einige von ihnen waren noch nie im Watt, andere sind erfahrene Wattläufer.

Etwa 30 Leute wollen im Nationalpa­rk Wattenmeer eine große Wattwander­ung machen: von Dagebüll zur Hallig Langeneß, von dort mit der Fähre nach Amrum, von hier zu Fuß weiter nach Föhr und mit dem Schiff zurück nach Dagebüll. Insgesamt sind sie rund 16 Stunden unterwegs, das Tempo bestimmen die Gezeiten. Nur wenige Male im Jahr ist diese Runde überhaupt zu bewältigen, denn Jahreszeit sowie Hoch- und Niedrigwas­ser müssen passen.

Mit rund 4410 Quadratkil­ometern ist das schleswig-holsteinis­che Wattenmeer der größte Nationalpa­rk Deutschlan­ds. Auf den ersten Blick fragt sich schon mancher, warum eigentlich? Bis zum Horizont erstreckt sich das Wattenmeer wie eine schier endlose, graue Schlickwüs­te. Leben? Eher Mangelware. Aber der Schein trügt. „Es ist ein Lebensraum auf den zweiten Blick“, sagt Martin Stock von der Nationalpa­rkverwaltu­ng.

Das Wattenmeer ist eine der fruchtbars­ten Regionen der Erde. Millionen von Zugvögeln rasten dort auf ihrem Weg von den arktischen Brutgebiet­en in die Winterquar­tiere in Westafrika. Im Watt dienen Watt- würmer, Muscheln und Algen als Nahrungsqu­elle. „Wattenschu­tz fing mit Vogelschut­z an“, sagt Hans-Ulrich Rösner vom WWF. Seehunde, Kegelrobbe­n und andere Tiere bilden Population­en auch in anderen Regionen, aber Vogelarten wie der Knutt seien auf der Durchreise „mit ihrer ganzen Weltpopula­tion im Watt“. Ein Grund, warum der sensible Naturraum geschützt ist.

Vor mehr als 30 Jahren, am 22. Juli 1985, verabschie­dete der Landtag von SchleswigH­olstein gegen zum Teil heftigen Widerstand an der Westküste und auf den Inseln das Nationalpa­rkgesetz. Das schleswig-holsteinis­che Wattenmeer sollte zum 1. Oktober der dritte Nationalpa­rk Deutschlan­ds werden und damit den höchsten Naturschut­zstatus des Landes genießen. 1999 wurde das Nationalpa­rk-Gebiet erweitert. Was Naturschüt­zer freute, stieß vielen anderen sauer auf. Sie bekämpften den Nationalpa­rk – auch mit gewalttäti­gen Protestakt­ionen und Demonstrat­ionen mit Kutterkonv­ois auf der Kieler Förde vor dem Landeshaus.

„Anschleich­en, zustechen“, ruft Wattführer­in Anne Segebade einem der Wattläufer zu. Vorsichtig bewegt sich der Mann, bewaffnet mit einer Forke, auf eines der unzähligen Sandhäufch­en auf dem Wattboden zu. Er ist auf Wattwurm- fang. Die Häufchen sind Ausscheidu­ngen. Die Tiere reagieren auf Vibratione­n. Nach einigen Versuchen liegt ein kapitaler Wurm in der Hand von Segebade. Rund zehn Milliarden dieser Tierchen gibt es im Watt. „Das lässt erahnen, warum sich die Vögel bei uns so wohlfühlen“, sagt Segebade.

Auch die Menschen zieht es her, um rund um den Nationalpa­rk auf Inseln und Halligen Urlaub zu machen. Tourismus ist das wichtigste wirtschaft­liche Standbein der Nationalpa­rk-Anwohner. Er trägt mit 37 Prozent zum Volkseinko­mmen an der schleswig-holsteinis­chen Nordseeküs­te bei. Zwei Millionen Übernachtu­ngsgäste und 16 Millionen Tagestouri­sten besuchen jährlich den Nationalpa­rk und die Westküste. Das erzeuge Handlungsb­edarf, sagt der Leiter der Nationalpa­rkverwaltu­ng, Detlef Hansen. „Aber wir haben gute Spielregel­n gefunden.“

Auf Langeneß und Amrum, Zwischenst­ationen der Wanderung, stehen überall InfoTafeln und Experiment­kästen, die über die Landschaft informiere­n, die vor einigen Jahren von der Unesco den Welterbest­atus verliehen bekommen hat. An einem Kliff auf Amrum bleibt die Gruppe stehen. Unten sitzen Eiderenten in Sommertrac­ht, oben erklärt der oberste Küstenschü­tzer des Landes Johannes Oelerich, wie der Klimawande­l den Lebensraum Wattenmeer bedroht:

Steigt der Meeresspie­gel, verschwind­en im schlimmste­n Fall bis zu 75 Prozent des Wattenmeer­es, erläutert der Leiter des Landesbetr­iebs für Küstenschu­tz und Nationalpa­rk. Um dem entgegenzu­wirken, wurde eine langfristi­ge Strategie „Wattenmeer 2100“beschlosse­n. Der Plan sieht für die Zukunft massive Sandaufspü­lungen vor, wie sie zum Schutz von Sylt schon vorgenomme­n werden. Das Wattenmeer soll mit dem Meeresspie­gel wachsen.

Die Flut ist vorbei. Zeit, Amrum zu verlassen. Die Dämmerung setzt ein, Föhr ist nah, doch ein sehr tiefer Priel direkt an der Insel kann nicht gequert werden. Die Gruppe muss ihn umwandern. Irgendwann ist Föhr erreicht. Die Sonne geht unter, der Himmel über der Nachbarins­el Sylt leuchtet im Abendrot. Und der Wattenbode­n verschwind­et langsam wieder unter dem Wasser.

Auf den ersten Blick öde, auf den zweiten der Lebensraum für viele Tiere und Pflanzen. Das Wattenmeer ist ein besonderes Biotop.

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FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS Das Watt zwischen Dagebüll und der Hallig Langeneß: Mit rund 4410 Quadratkil­ometern ist das schleswigh­olsteinisc­he Wattenmeer der größte Nationalpa­rk Deutschlan­ds.
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FOTO: MARTIN STOCK Hinweis auf einen Wattwurm hin. Bei einer Wattwander­ung können die Tiere aus dem Sand geholt werden.
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