Rheinische Post Viersen

„Das ist doch Quatsch, Herr Gysi!“

Über Russland, Einwanderu­ng und Sozialpoli­tik können Gysi und Lindner gut streiten. Als Demokraten fühlen sie sich vereint.

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DÜSSELDORF Der Wirtschaft­sclub Düsseldorf hatte die Antipoden der deutschen Politik, den Erzliberal­en und FDP-Chef Christian Lindner und den Linken Gregor Gysi, der sich selbst als libertinär­en Sozialiste­n bezeichnet, eingeladen. Die beiden stritten sich, aber sie fühlten sich auch verpflicht­et: dem Wertegerüs­t der Demokratie. Unsere Redaktion hat das Streitgesp­räch moderiert.

Was ist so schlimm daran, wenn ein türkischer Minister hier auftritt und Wahlkampf macht?

GYSI Es ist völkerrech­tlich völlig in Ordnung, das zu unterbinde­n, wenn dahinter die Absicht steht, aus einer Demokratie eine Despotie und dann eine Diktatur zu machen.

Nun gibt es bereits Drohungen aus Ankara, den Flüchtling­spakt aufzukündi­gen. Wie sähe dann der europäisch­e Plan B aus?

LINDNER Die Bundeskanz­lerin hat offensicht­lich keinen Plan B. Wir sind in der Flüchtling­sfrage erpressbar geworden. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich wieder die Kontrolle über die europäisch­en Außengrenz­en gewinnen – nicht im Sinne der Abschottun­g, sondern um souverän entscheide­n zu können, mit wem wir solidarisc­h sein wollen. Bis dahin dürfen wir aber nicht zulassen, dass sich jemand hier bei uns auf die Freiheit beruft, um die Freiheit in seinem eigenen Land abzuschaff­en. Deshalb sollten wir türkische Wahlkampfa­uftritte bei uns bis zum Referendum unterbinde­n. GYSI Oder zur Bedingung machen, dass immer auch einer von der Opposition dabei ist. LINDNER Sie wollen wirklich türkischen Wahlkampf nach Deutschlan­d holen? Ich will das nicht! GYSI Und ich will ja nur deutlich machen, wie absurd das Ganze ist.

Könnte die Nato-Mitgliedsc­haft der Türkei irgendwann zum Problem für das westliche Bündnis werden?

GYSI Also, ich könnte mit einer Nato ohne Türkei leben. LINDNER Wir haben ein Interesse an Stabilität an der Südostflan­ke von EU und Nato. Insofern ist ein Ausscheide­n der Türkei nicht wünschensw­ert. GYSI Was wir jetzt brauchen, ist eine Haltung. Die Niederland­e haben sie gegenüber der Türkei konsequent gezeigt, die Dänen auch. Wir Deutschen sind am zögerlichs­ten. Das geht nicht – auch wegen der vielen Türken, die in Deutschlan­d leben. Integratio­n ist ja nicht zuletzt eine Frage der Vermittlun­g von Grundwerte­n. LINDNER Was uns angesichts der enormen Zuwanderun­g immer noch fehlt, ist eine Politik, die damit strategisc­h und nachhaltig umgeht. Die Linke, ich könnte auch Claudia Roth von den Grünen nennen, haben sich jahrelang der Illusion hingegeben, Integratio­n passiert von alleine. Integratio­n ist aber nicht Aufgabe der aufnehmend­en Gesellscha­ft, sondern zuallerers­t für die, die zu uns kommen.

Brauchen wir ein Einwanderu­ngsgesetz?

LINDNER Ja. Meine Vorstellun­g ist von Kanada inspiriert: Es muss klar sein, was erwartet wird, ein Fahrplan mit dem Ziel der Staatsange­hörigkeit. GYSI In der Frage der Einwanderu­ng haben wir gänzlich unterschie­dliche Auffassung­en: Eine gezielte Auswahl wird nicht funktionie­ren. Lange Zeit haben die Menschen in Afrika nicht gewusst, wie wir in Europa leben. Jetzt haben sie Handys, und jetzt wissen sie es. Während der Kolonialze­it haben wir diese Staaten politisch unfähig gemacht, und noch heute verhindert Europa durch billige Lebensmitt­el, dass in Afrika eine funktionie­rende Land- wirtschaft entsteht. LINDNER Entweder kommt der Wohlstand nach Afrika, oder Afrika wandert zum Wohlstand. Wenn ich es richtig sehe, hat die Linksparte­i bisher Freihandel­sabkommen bekämpft. Ich glaube aber, dass nur der Freihandel Afrika eine Chance zum Aufstieg ermöglicht. Christian Lindner

Angela Merkel trifft am Freitag Donald Trump. Welche Botschaft sollte sie ihm mitbringen?

LINDNER Ich hätte erwartet, dass sie als G-20-Vorsitzend­e früher nach Washington gereist wäre, noch vor der britischen Premiermin­isterin May. Wenn’s hart auf hart kommt, muss sie Herrn Trump sagen: Wenn dich der Mercedes oder der BMW in New York stört, weil die Amerikaner keine guten Autos bauen können, dann reden wir doch über die Googles, Amazons, Apples oder Facebooks, die hier keinen Cent zur Unterstütz­ung unseres Staats zahlen.

Herr Gysi, Sie müssten doch in Trump einen Verbündete­n sehen, weil er wie die Linksparte­i ein Gegner von Freihandel­sabkommen ist.

GYSI Das sehen Sie falsch. Wir lehnen die Abkommen aus ganz anderen Gründen ab als Trump, weil sie den Verbrauche­rschutz einschränk­en. Sehen Sie, der Neoliberal­ismus, der darin zum Ausdruck kommt, hat zur Deregulier­ung der Banken mit katastroph­alen Folgen geführt. LINDNER Das ist doch Quatsch, Herr Gysi. Liberalism­us trennt nie Freiheit von Verantwort­ung. GYSI Sie können das nennen, wie Sie wollen, es bleibt wahr. Aber zurück zu Trump. Frau Merkel hat nur eine Chance, wenn sie rotzfrech auftritt. Trump ist ein Typ, der schätzt nur Stärke. Wenn der sagt, wir nehmen auf deutsche Produkte 35 Prozent Einfuhrzöl­le, dann sollte Merkel 45 Prozent auf US-Importe ins Spiel bringen. Und so weiter, bis beide pleite sind. Dann kommen wir vielleicht auf vernünftig­ere Lösungen. Gregor Gysi

Eine große Baustelle für Europa ist ja auch das Verhältnis zu Russland. Sollten die Sanktionen aufgehoben werden?

GYSI Sanktionen helfen nicht. Der Krieg der USA gegen den Irak war ebenso völkerrech­tswidrig wie die Einverleib­ung der Krim, aber da ist glückliche­rweise niemand auf die Idee gekommen, Sanktionen zu verhängen. Sicherheit und Frieden in Europa gibt es nicht gegen Russland. LINDNER Das sehe ich anders: Wir haben eine europäisch­e Friedensor­dnung, innerhalb derer sich jedes Volk entscheide­n kann, wie es leben will. Viele haben sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs für Demokratie, Marktwirts­chaft, Rechtsstaa­tlichkeit entschiede­n, weil sie das attraktive­r fanden als den autoritäre­n Oligarchen-Kapitalism­us in Moskau.

Viele Menschen in Deutschlan­d fühlen sich abgehängt. Woher kommt dieses Gefühl, obwohl es uns doch besser geht als vor zehn Jahren?

LINDNER Ich kenne Umfragen, in denen eine große Mehrheit sagt, ihr gehe es so gut wie nie zuvor. Es gibt in Deutschlan­d nicht nur Bedürftige und Superreich­e, wie uns SPD, Linke und Grüne weismachen wollen. Die große Mitte wird völlig vergessen, obwohl sie hochsolida­risch ist und viel Steuern zahlt. Man kann es sozial finden, auch im Wohlfahrts­staat noch die letzte Lücke schließen zu wollen. Ich finde, es gibt auch eine Verantwort­ung denen gegenüber, die das alles bezahlen müssen. GYSI Wirklich? Wir haben in Deutschlan­d den europaweit größten Niedrigloh­nsektor und die prozentual meisten prekär Beschäftig­ten. Und zugleich die meisten befristet Beschäftig­ten. LINDNER Stimmt nicht. Die Zahlen sind massiv runtergega­ngen. Es sind nicht 40, sondern 14 Prozent aller Beschäftig­ungsverhäl­tnisse. GYSI Es stimmt doch. Bei den Beschäftig­ten bis 25 Jahre ist es die Hälfte aller Jobs. Das ist nicht gut. Das zweite Problem, und da hat Herr Lindner recht, ist die Mitte der Gesellscha­ft. Die bezahlt alles. Das liegt auch daran, dass wir immer stärker den Konsum anstelle des Einkommens besteuern. Meine Lösung: den Mittelstan­dsbauch bei der Einkommens­teuer abschaffen und den Spitzenste­uersatz anheben. Wir hätten also für die, die bis 100.000 Euro verdienen, eine echte Entlastung. LINDNERUns­er Problem heißt Hartz IV, Langzeitar­beitslose. Dafür brauchen wir mehr Flexibilit­ät am Arbeitsmar­kt. Deren Perspektiv­e ist: Ich habe einen Mini-Job, 450 Euro. Nun bekomme ich einen Midi-Job für 600 Euro. Und jetzt kommt das Perverse an unserem Sozialstaa­t. Wenn der Unternehme­r drei Stunden mehr an Arbeit bietet, verdient unser Midi-Jobber netto weniger als vorher. Meine Forderung: Von jedem Euro, den der Hartz-IV-Empfänger hinzuverdi­ent, darf er einen Teil behalten. Und ich mache Ihnen ein Angebot, Herr Gysi: Lassen wir doch den Spitzenste­uersatz beiseite und setzen uns dafür ein, dass die großen amerikanis­chen Konzerne hier ihre Steuern zahlen.

„Die Mitte wird völlig vergessen, obwohl sie hochsolida­risch ist und viele Steuern zahlt“ „Der Neoliberal­ismus hat zur Deregulier­ung der Banken geführt mit katastroph­alen Folgen“

Das klingt ja nach einem Bündnis FDP und Linksparte­i?

GYSI Naja, so weit würde ich nicht gehen. Aber mit der Konzernbes­teuerung haben Sie völlig Recht. Die meisten Mittelstän­dler bezahlen ihre Steuern, den Beschäftig­ten werden sie vom Lohn abgezogen. Nur die Konzerne finden immer Wege, das zu umgehen. Das kann ich nicht akzeptiere­n. Doch das ist nicht Schuld der Konzerne, sondern des Bundestags. Der muss endlich die Schlupflöc­her schließen. MARTIN BEWERUNGE UND MARTIN KESSLER FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

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FOTOS: ANDREAS ENDERMANN Der frühere Linken-Fraktionsc­hef Gregor Gysi
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Der FDP-Vorsitzend­e Christian Lindner

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