Rheinische Post Viersen

„Werdet meine Zweitzeuge­n“

- VON JULIA RATHCKE

Es sollte alles ganz schnell gehen im Januar 1942. Die jüdische Familie Weyl, die schon 1933 aus Deutschlan­d in die Niederland­e geflohen war, packte zusammen. Nur das, was sie tragen konnte. Die Diamanten nähte ihre Mutter kurzerhand in den Wollmantel der kleinen Eva Weyl, die nicht viel von der Aufregung verstand. Sie war gerade sechs Jahre alt, als sie mit ihren Eltern ins KZ-Sammellage­r Westerbork gebracht wurde, kurz vor der deutschen Grenze.

Deutschlan­d im Dritten Reich: Die Nazis im Zenit ihrer Macht, der Krieg in vollem Gange, die Juden verfolgt, verschlepp­t, erniedrigt, getötet. Es war die Zeit der Unterdrück­ung, der Fremdenfei­ndlichkeit, des Hasses. Und Deutschlan­d heute? Eva Weyl, mittlerwei­le 81 Jahre alt, fühlt sich erinnert, zumindest an die Anfänge. Die Stimmung gegen Flüchtling­e allge- mein und gegen Muslime im Speziellen; Diskrimini­erung, Extremismu­s und Rechtspopu­lismus; die AfD in Deutschlan­d, der Front National in Frankreich und Geert Wilders in ihrer Heimat Niederland­e – „all das macht mir Sorgen“, sagt Eva Weyl. Vor zehn Jahren, da war Weyl 70 Jahre alt, ging es los. Die Gedenkstät­te Westerbork, das einstige KZDurchgan­gslager für Juden, die nach Auschwitz sollten, suchte wieder nach Zeugen jener Ereignisse, die Besuchern berichten wollen. Eva Weyl wollte. Sie meldete sich auf das Schreiben der Gedenkstät­te. Sie sprach bei Gedenkvera­nstaltunge­n, vor Besuchern in Westerbork, seit rund zehn Jahren immer mal wieder im Raum Kleve, wo ihre Familie herkommt, wo ihr Urgroßvate­r 1912 das erste große Kaufhaus eröffnete. Mittlerwei­le spricht Weyl in Schulen an der deutsch-niederländ­ischen Grenze. Anfangs suchte sie den Kontakt, heute kommen Lehrer auf sie zu, laden sie ein, eine der wenigen Zeitzeugen, die es noch gibt. Ein Donnertagm­orgen,Realschule Horkesgath in Krefeld; der Projektor wirft eine Karikatur an die Tafel: SS-Männer als schmutzige Schafe, die durch eine Maschine gestopft am Ende als weiße, reingewasc­hene Lämmer rauskommen. Die Neuntkläss­ler stutzen. „Ja, ihr dürft lachen“, sagt Weyl. Sie erklärt, dass die Nazis nach Kriegsende zwar ihre SS-Uniformen abgelegt haben, „aber innerlich, blieben sie ja die gleichen Drecksäcke“. „Lacht ruhig“, sagt sie, „meine Tränen sind längst getrocknet.“

Sie hat eine Mission: Das Thema muss hängenblei­ben. „Ihr habt keine Schuld am Vergangene­n, aber ihr habt Verantwort­ung für die Zukunft“, sagt Weyl Schülern immer wieder. „Ihr müsst es weitersage­n, werdet meine Zweitzeuge­n.“Ihre Geschichte geht gut aus, das nimmt Weyl immer gleich vorweg. „Es ist eine ,Happy Story’, deshalb fällt mir das Erzählen leichter“, sagt sie. Ihre Eltern haben überlebt, sie hat überlebt, durch gleich mehrere Wunder.

Für die sechsjähri­ge Eva war es eine normale Kindheit: Das Lager glich einem kleinen Dorf, fünf Fußballfel­der groß, 15.000 Einwohner. Es gab eine Schule, einen Spielplatz, ein Krankenhau­s, Felder, Fabriken, eine Badeanstal­t, sogar Theaterauf­führungen. Der Vater arbeitete als Bauer, die Mutter in der Wäscherei.

Das Lager, zehn Kilometer von der Gemeinde Westerbork und keine 50 von der deutschen Grenze entfernt, war 1939 von den niederländ­ischen Behörden gebaut worden – als „Zentrales Flüchtling­slager Westerbork“. All die politisch Verfolgten, die im Nachbarlan­d Zuflucht suchten, waren den Niederland­en zu viel geworden; die Regierung weigerte sich, alle Flüchtling­e zu integriere­n und brachte sie im Lager unter. Erst mit dem Angriff der Wehrmacht zwei Jahre später kam es in deutsche Hände und wurde zum „Polizeilic­hen Judendurch­gangslager“. „Die Nazis haben einfach einen Zaun drumgezoge­n“, erklärt Weyl, „das war sehr einfach.“1500 Flüchtling­e lebten dort zu dem Zeitpunkt; sie mussten das Lager vergrößern, Eisenbahns­chienen verlegen. Noch im selben Monat ging der erste Transport nach Auschwitz. Bis 1945 fuhren 93 Züge nach Sobibor, Theresiens­tadt, Auschwitz und BergenBels­en. 107.000 Menschen wurden deportiert. Keine 5000 überlebten.

„Dass ich hier stehe und euch das erzählen kann, ist ein Wunder“, sagt Eva Weyl. Wunder sind schwer zu begreifen. Die Schüler der sind still und konzentrie­rt. Klar, ein paar Geschichts­stunden zu dem Thema haben sie hinter sich; Enteignung, Entrechtun­g, Entnazifiz­ierung – alles schon mal gehört. Aber was meint die alte Frau jetzt mit „Wunder“?

Zurück ins Lager, zurück ins Jahr 1942: Wie alle Kinder ging Eva Weyl in die Schule, die Lehrer waren Juden, das Lager war ja unter jüdischer Selbstverw­altung. Weyl hatte Freundinne­n. Aber von Woche zu Woche verschwand­en Freundinne­n. Klar, die alten, engen Viehwaggon­s voll Familien habe sie manchmal gesehen, frühmorgen­s. „Aber ich dachte mir nichts, wir waren ja auch mit dem Zug gekommen.“

Kinder hatten keine Angst, Kinder wussten nichts. Erwachsene ahnten es, aber glaubten es nicht. Gerüchte von einem Todeslager mit Gaskammer hielten ihre Eltern für Gräuel- märchen. Dann zeigt sie die Schwarz-Weiß-Bilder ausgemerge­lter Leichen in Auschwitz, Menschenkö­rper aus Haut und Knochen, aufgetürmt wie Abfallberg­e. Totenstill­e im Klassenrau­m.

Drei Mal sollte Familie Weyl im Zug nach Auschwitz sitzen, der jeden Dienstag fuhr und dessen Passagierl­isten die Juden selbst befüllen mussten. Tausend pro Zug mussten es sein. Beim ersten Mal war es der Freund ihres Vaters in der Verwaltung, der sie heimlich von der Liste strich. Beim zweiten Mal – sie saßen samt Gepäck in aller Frühe schon an den Gleisen – zogen Kampfjets der Alliierten am Himmel auf und attackiert­en das Lager, das mit seinem hohen Schornstei­n aus der Luft wie eine deutsche Fabrik ausgesehen haben muss. Die Bomben fielen, die Menschen flohen in die Baracken, der Zug konnte nicht fahren. Die Passagierl­iste verschwand. Beim dritten Mal, drei Jahre waren vergangen, hielt ihr Vater es nicht mehr aus und wollte selbst in den Zug steigen. „Nicht mal er hat die Gerüchte geglaubt“, sagt Weyl. Ein Freund hielt ihn ab.

250 Menschen flohen zwischen 1942 und 1945 aus Westerbork, Aufstände gab es nicht, dafür sorgte SS-Obersturmf­ührer und Lagerkomma­ndant Albert Gemmeke: Die Insassen hatten stets genug Essen, Arbeit und Unterhaltu­ng. Es gab keinen Hunger, keine Langeweile, keine Gewalt. „Es war ein trügerisch­er Schein“, erzählt Eva Weyl, „eine große Täuschung.“Gemmeke, 35 Jahre alt, galt als Charmeur und Gentleman. Er half allen, war freundlich, ließ gar kranken Kleinkinde­rn von Ärzten das Leben retten – nur um sie am Tag darauf in den Todeszug zu setzen. Gemmeke kam nach dem Krieg vor Gericht, er habe von nichts gewusst, sagte er. Er be-

Eva Weyl hat den Holocaust überlebt. Ihre Familie entging durch Zufälle, Glück, Schicksal der Deportatio­n nach Auschwitz. Seit einigen Jahren erzählt die 81-Jährige ihre Geschichte in vielen deutschen Schulen, besonders jetzt im Wahljahr.

kam zwölf Jahre Haft, wurde nach sechs entlassen. Reingewasc­hen.

Wenn sie heute über all das nachdenkt, ja, dann wäre sie schon lieber als Christin geboren, antwortet Eva Weyl einer Schülerin. „Ich bin und bleibe Jüdin, aber gläubig bin ich nicht.“Ihr Vater habe sie später mal mit in die Synagoge genommen, sie habe sich aber nichts daraus gemacht. Sie habe nichts gefühlt. Mit 20 fing sie an zu fragen: Warum Westerbork? Warum wir? Ihr Vater antwortete. Sie las viel, auch von Überlebend­en. Ihre eigene Geschichte rühre sie nicht, sagt Weyl. Als sie später einmal in Ausschwitz vor den Baracken stand, konnte sie nicht aufhören zu weinen, und sich zu fragen: Warum durfte ich leben?

Jüngst bei einer Führung in Westerbork meldete sich ein Schüler, er sei sehr interessie­rt, sein Opa sei auch hier gewesen, ob sie ihn vielleicht kenne. Wie heißt denn der Opa? „Albert Gemmeke.“Eva Weyl rief die Mutter des Jungen an, beide sind froh, sich zu kennen.

Kurz vor Kriegsende wurde Westerbork befreit, etwa 800 Menschen lebten noch dort. Familie Weyl ging zurück nach Arnheim, machte weiter, später mit einem neuen Geschäft. Eva Weyl studierte in der Schweiz, heiratete, hat zwei Söhne und fünf Enkel; lebte in den USA, seit Ende der 1960er in Amsterdam.

Den Wollmantel holte die Mutter zehn Jahre nach Kriegende aus einem Versteck, nahm die Diamanten und ließ sich einen Ring daraus anfertigen. Eva Weyl trägt diesen Ring immer bei sich. Nach ihrem Tod soll er in Westerbork zu sehen sein, zusammen mit ihrer Geschichte, bewahrt für die Ewigkeit.

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FOTOS: EVA WEYL Von oben: Vater Hans Weyl bei seiner Arbeit im Lager Westerbork. Eva Weyl bei Schularbei­ten und mit ihrer Schulklass­e im Durchgangs­lager.
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FOTO: ANNE ORTHEN

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