Rheinische Post Viersen

„Bis zu 400.000 Mittelmeer­flüchtling­e“

Der Entwicklun­gsminister plädiert dafür, den EU-Binnenmark­t für die Maghreb-Staaten und Ägypten zu öffnen, und wünscht sich Seehofer als Spitzenkan­didaten für die Bundestags­wahl.

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Warum erfahren wir von Hungersnöt­en immer erst, wenn schon Kinder verhungert sind?

MÜLLER Es ist beschämend. Ich bin auch fassungslo­s darüber, dass es der Weltgemein­schaft nicht gelingt, diese Hungersnöt­e zu verhindern. Wir brauchen ein neues Weltkrisen­system für schnelle Hilfen.

Wie soll das aussehen?

MÜLLER Wir brauchen einen von den UN finanziert­en Krisenfond­s, der mit zehn Milliarden Euro gefüllt ist. Daraus können Hilfsorgan­isationen in Krisensitu­ationen schnell die notwendige­n Mittel erhalten. Es kann nicht so weitergehe­n, dass erst gestorben wird, die UN dann mit dem Bettelstab kommen und die Menschen erst mit monatelang­er Verzögerun­g Hilfe erhalten.

Wie viel Geld fehlt, um die 20 Millionen bedrohten Menschen vor dem Hungertod zu bewahren?

MÜLLER Um die Menschen im Südsudan, in Somalia, in Nigeria und im Jemen zu retten, sind etwa fünf Milliarden US-Dollar notwendig. Bislang ist nur eine Milliarde vorhanden. Das ist empörend. Für die Welt- gemeinscha­ft von 195 Staaten ist das keine große Summe. Wir stellen in Deutschlan­d für eine Million Flüchtling­e 30 Milliarden Euro in den Haushalt ein.

Auf wie viele Mittelmeer­flüchtling­e muss sich Europa einstellen?

MÜLLER In den ersten drei Monaten hat sich die Zahl der Flüchtling­e aus Afrika verdoppelt. Wenn wir das hochrechne­n, könnten in diesem Jahr 300.000 bis 400.000 Menschen in Italien ankommen. Niemand kann garantiere­n, dass es nicht wesentlich mehr werden, wenn wir in Afrika nicht mehr in Bildung, Ausbildung und die Bekämpfung der Schleppers­trukturen investiere­n.

Ist also in der Vergangenh­eit zu wenig geschehen – hat die Entwicklun­gspolitik versagt?

MÜLLER Nein, und die Entwicklun­gspolitik kann auch nicht für jede Krise den Feuerlösch­er spielen. Zwischen Europa und Afrika liegen 14 Kilometer. Deshalb werden wir die Zäune in Nordafrika gar nicht so hoch bauen können, dass nicht Hunderttau­sende, vielleicht Millionen zu uns kommen – aus Not, aus Elend, als Klima-, als Hungerflüc­htlinge. Europa braucht einen völlig neuen Ansatz für den Partnerkon­tinent Afrika.

Wie sieht Ihr Konzept aus?

MÜLLER Es ist wichtig, die Entwicklun­gszusammen­arbeit zu stärken, aber das reicht nicht. Eine Investitio­nsoffensiv­e der Privatwirt­schaft gehört dazu. Und fairer Handel. Die Afrikaner müssen in den Wertschöpf­ungsketten Chancen haben, die eigene Wirtschaft aufzubauen.

Diese Erkenntnis ist nicht neu.

MÜLLER Aber es ist nicht danach gehandelt worden. Wir hatten vielmehr eine Fortsetzun­g des Kolonialis­mus mit anderen Vorzeichen. Für die Ressourcen aus Afrika haben wir keine fairen Preise gezahlt und unsere Märkte gegen afrikanisc­he Wa- ren abgeschott­et. Wenn der Kaffeebaue­r für das Kilo 50 Cent bekommt und das Kilo hier zehn Euro kostet, kann man das nur Ausbeutung nennen. Warum gewähren wir tunesische­n Oliven und Datteln keinen kompletten Marktzugan­g in Europa? Das ist doch paradox: Wir lassen nicht zu, dass Tunesien mit hervorrage­nden Produkten in Europa Geld verdient, verlangen aber, dass ich deutsches Geld in Tunesien in die Entwicklun­gshilfe stecke. Starten wir mit Tunesien, Marokko, Algerien und Ägypten eine neue Phase der Integratio­n in den europäisch­en Binnenmark­t, dann ist das die effektivst­e Bekämpfung der Fluchtursa­chen.

Sollte denn in einer künftigen Bundesregi­erung der CSU-Chef mit am Kabinettst­isch sitzen?

MÜLLER Ich würde mir wünschen, dass der CSU-Vorsitzend­e Horst Seehofer der bayerische Spitzenkan­didat für den Bundestag wird. Und ein CSU-Chef als Mitglied der Bundesregi­erung würde unsere Durchschla­gskraft weiter erhöhen. GREGOR MAYNTZ UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

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FOTO: DPA Entwicklun­gsminister Gerd Müller (61).

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