Rheinische Post Viersen

Was bei der Berufsarme­e schiefläuf­t

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Deutliche Worte findet Heeresinsp­ekteur Jörg Vollmer in seinem jüngsten internen Befehl an die Truppe: „Verschweig­en, Weghören, Wegschauen ist falsch verstanden­e Kameradsch­aft, Eingreifen und Verhindern eine Frage der Ehre.“Auch Generalins­pekteur Volker Wieker hat Anlass, eilig eine „Analyse zur inneren Lage der Bundeswehr“vorzulegen. Und Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen (CDU) richtete in ihrem Haus eine „Ansprechst­elle Diskrimini­erung und Gewalt in der Bundeswehr“ein. Die Medienberi­chte über Misshandlu­ngen und Herabwürdi­gungen von Soldatinne­n und Soldaten durch Kameradinn­en und Kameraden in Pfullendor­f, Bad Reichenhal­l und weiteren Standorten scheinen nur die Spitze eines Eisberges zu erfassen. Was läuft schief hinter deutschen Kasernento­ren?

Die Zahlenbasi­s ist nicht eindeutig, wird möglicherw­eise auch in Teilen verschleie­rt. Jedenfalls beschweren sich Parlamenta­rier über unvollstän­dige Angaben. Wieker führt „rund 40 Hinweise“auf, die bei Zivilbesch­äftigten in Richtung Mobbing gingen und bei Soldaten schwerpunk­tmäßig im Bereich „sexuelle Übergriffe“lägen. Ergänzend verlautete aus Bundeswehr-Kreisen, es habe 2015 bis 2017 insgesamt 3100 Meldungen über Vorfälle gegeben, die eine „Relevanz“zur „Inneren Führung“aufwiesen. Davon hätten mehr als 200 von sexueller Belästigun­g, Benachteil­igung und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbest­immung gehandelt. Aber was heißt „mehr als 200“? Auch von mehr als 500 war in diesem Zusammenha­ng mal die Rede. Der erfahrene Kriminolog­e Christian Pfeiffer soll das alles nun systematis­ch auswerten.

Trends hat aber auch die Bundeswehr­führung schon selbst ermittelt: „Im Fokus stehen überwiegen­d Mannschaft­ssoldaten und Unteroffiz­iere, vorrangig im Altersband zwischen 20 und 30 Jahren“, heißt es unter „wesentlich­e Erkenntnis­se“in der Untersuchu­ng des Generalins­pekteurs. Und er folgert daraus: „Dieses lässt ein besonderes Erforderni­s an stringente­r Führung, Ausbildung und Erziehung für diesen Personenkr­eis erkennen.“

Das ließe sich auch auf das Argument beziehen, wonach einige Ausbilder Grenzen überschrit­ten, um Situatione­n zu simulieren, in die Spezialkrä­fte, vor allem Frauen, nach einer Gefangenna­hme durch islamistis­che Terroriste­n kommen könnten. Doch der Wehrbeauft­ragte des Bundestage­s, Hans-Peter Bartels (SPD), hält diesen Erklärungs­versuch für vorgeschob­en. Er vermutet bei spezialisi­erten Kräften eher ein „zusätzlich­es Problem, dass manche dort das Gefühl haben, sich mit übertriebe­ner Härte von anderen unterschei­den zu sollen“.

Die Bundeswehr wird nach der Beobachtun­g von Bartels insgesamt älter, also quasi „eine Armee der Mütter und Väter“. Es gebe mehr Zeitsoldat­en, mehr Berufssold­aten, mehr ältere Quereinste­iger. Deshalb könne man davon ausgehen, dass die Probleme, die vor allem jüngere Soldaten beträfen, „in der Fläche abnehmen“. Tatsächlic­h seien vor allem die mannschaft­sstarken Kampfverbä­nde mit vielen jungen Leuten betroffen. Und hier kommt tatsächlic­h der Umstieg von der Wehrpflich­tzur Berufsarme­e ins Spiel.

„In Zeiten der Wehrpflich­t gab es mehr Aufsicht“, sagt Bartels unserer Redaktion. Da waren der Gefreite vom Dienst, der Unteroffiz­ier vom Dienst, die militärisc­he Bereitscha­ft – diese Präsenz habe es erleichter­t, informell Dinge mitzukrieg­en, etwa entwürdige­nde Aufnahmeri­tuale. „Es ist nun schlicht niemand mehr da, der hinguckt“, erläutert Bartels.

SPD-Verteidigu­ngsexperte Rainer Arnold teilt diesen Befund: „Zur Zeit der Wehrpflich­t waren die Vorgesetzt­en Tag und Nacht mit in der Kaserne, nun sind die jungen Leute abends alleine.“Es sei Hans-Peter Bartels (SPD) somit „ein Problem, dass die Aufsicht fehlt“. Jahrelang seien die Warnungen vor Lücken im Personal ignoriert worden. „Erst jetzt hat die Ministerin festgestel­lt, dass man doch wieder mehr Personal braucht“, erläutert Arnold.

Für den Linken-Bundeswehr­fachmann Alexander Neu sind die Missbrauch­sfälle „systemimma­nent“. In abgeschlos­senen sozialen Räumen mit strenger Hierarchie würden Ventile gesucht, um unter Druck Dampf abzulassen. „Noch schwierige­r wird es, wenn dann noch elitäres Denken dazukommt“, meint Neu. Und ganz besonders, wenn es dann in den Kasernen nach Abschaffun­g der Wehrpflich­t nachts kaum noch Vorgesetzt­e gebe. Möglicherw­eise müssten einige Mechanisme­n wieder eingeführt werden, damit Ältere und Erfahrene ein Auge darauf werfen könnten, was sich in der Truppe tue.

Die Grünen kritisiere­n fehlende verlässlic­he Grundlagen. So sei nicht klar, ob die gestiegene Zahl sexueller Übergriffe an einer realen Zunahme der Zahl der Vorfälle liege oder Betroffene sich nun eher trauten, dagegen vorzugehen. „Die Hintergrun­de müssen nun ehrlich, transparen­t und systematis­ch analysiert werden“, fordert Verteidigu­ngsexperti­n Agnieszka Brugger. Eine „neue Meldekultu­r“hat auch der Generalins­pekteur schon intern angemahnt.

Ein Teil des Problems scheint in der Tat typisch für militärisc­he Zusammenhä­nge zu sein. „Belästigun­g gibt es überall in der Gesellscha­ft, davon ist die Bundeswehr ein Teil“, analysiert der Wehrbeauft­ragte. Aber es handele sich bei der Truppe um einen besonderen Teil, weil man sich dort weniger aus dem Weg gehen könne und „gegebenenf­alls auf Leben und Tod aufeinande­r angewiesen“sei. Möglicherw­eise, so vermutet Arnold, hätten manche Soldaten auch die Veränderun­gen in der Gesellscha­ft noch nicht mitvollzog­en. Schließlic­h sei auch über Aufnahmeri­tuale die Zeit inzwischen hinweggega­ngen. Sein Beispiel: „Früher mag man darüber gelacht haben, aber heute ist das Ex-Trinken von zwei Litern Bier nicht mehr lustig.“

„In Zeiten der Wehrpflich­t gab es mehr Aufsicht“ Wehrbeauft­ragter des Bundestage­s

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