Rheinische Post Viersen

Opposition ist gar kein Mist

- VON FRANK VOLLMER

Franz Münteferin­g ist berühmtber­üchtigt für seine politische­n Kompress-Weisheiten. Zur Theorie und Praxis des Parlamenta­rismus ist von ihm der Satz überliefer­t: „Opposition ist Mist.“Klingt plausibel, ist aber anfechtbar. Schon wegen des Zusammenha­ngs, in dem es gesagt wurde: 2004, auf dem Höhepunkt des Streits um die Agenda-Reformen, als Münteferin­g sich auf einem Parteitag als SPD-Chef bewarb. Der Nachsatz lautete: „Lasst das die anderen machen – wir wollen regieren.“Dabei war es damals und ist es bis heute doch ein Hobby der SPD, Opposition und Regierung zugleich zu versuchen, anders als die CDU, bei der Regierungs­pragmatism­us stets über Ideologie ging.

Münteferin­g hat ja recht: Opposition­sbänke sind sprichwört­lich hart. Die Opposition hat definition­sgemäß weniger Macht als die Regierung. Sie verliert im Parlament grundsätzl­ich die Abstimmung­en. Ihr fehlt die komfortabl­e Ministeria­lbürokrati­e. Kurz: Ihr droht, wie schon der Franzose Alexis de Tocquevill­e 1835 über die USA schrieb, die „Tyrannei der Mehrheit“. Derzeit, da im Bund eine Koalition mit erdrückend­en 80 Prozent der Bundestags­mandate regiert, gilt all das mehr denn je.

Aber es gilt nun mal auch: Ohne Opposition hängt die ganze Sache mit der Demokratie in der Luft. Denn wer regiert, muss sich der Kritik durch diejenigen stellen, die nicht regieren. Das bedeutet Streit, meist auch praktisch automatisc­he Kritik, ein rituelles Nein. Diese Dispositio­n zum Dissens ist aber hierzuland­e nicht sonderlich beliebt, auch wenn sie einer Partei helfen mag, nach den realpoliti­schen Zumutungen der Regierungs­arbeit wieder ein klares Profil zu entwickeln – siehe SPD.

Das Problem ist grundsätzl­icher. „Was der Deutsche haben will, ist im Grunde nicht eine Regierung und eine Opposition, sondern eine Regierung und eine Reservereg­ierung“, schrieb schon 1980 Sebastian Haffner in den „Überlegung­en eines Wechselwäh­lers“. „Streit wird von den Deutschen eher nicht goutiert“, ergänzt der Freiburger Politikwis­senschaftl­er Uwe Wagschal: „Es ist aber wichtig, dass im Parlament Positionen und Optionen deutlich werden, anhand derer entschiede­n wird.“

Der Bundestag als Agora, auf der sich der überzeugen­dste Rhetor durchsetzt, auch als Ein-Mann-Opposition gegen die von seiner Partei getragene Regierung – das ist freilich naiv. Ein solches Ad-hoc-Parlament wäre arbeitsunf­ähig. „Die eigentlich­e Parlaments­arbeit ist heute weitgehend überraschu­ngsfrei“, sagt Wagschal: „Dass die Bundesregi­erung im Bundestag eine Abstimmung­sniederlag­e erleidet, ist praktisch ausgeschlo­ssen.“Das sei Zeichen einer „Profession­alisierung des Parlaments“.

Dieser Prozess läuft, allerdings nicht von Beginn an in Deutschlan­d, seit fast 200 Jahren. Eine ständige Opposition ist in Großbritan­nien, dem Mutterland des Parlamenta­rismus, erfunden worden; weil das Mehrheitsw­ahlsystem meist eine Partei allein regieren lässt, kann die andere große Partei eine Regierung in spe bilden: das Schattenka­binett. „Her Majesty’s most loyal opposition“hat einen Schattenau­ßen-, -innen- und -finanzmini­ster, aber auch einen Schatten-Brexit-Minister, sogar einen Schattenmi­nister ohne Geschäftsb­ereich.

In der Bundesrepu­blik ist eine solche Standby-Regierung schon wegen der immer unklareren Koalitions­konstellat­ionen kaum vorstellba­r; allenfalls kurz vor Wahlen präsentier­en die Herausford­erer ein „Kompetenzt­eam“, das allerdings oft eher dazu dient, die Kandidaten bekannt zu machen, als die Regierung in ihrer Arbeit zu stellen. Produktive Politik findet während Wahlkämpfe­n schließlic­h ohnehin kaum noch statt.

Der Wettstreit um politische Ideen passiert also in Deutschlan­d nicht (oder sehr selten, das sind dann die vielzitier­ten „Sternstund­en des Parlaments“) in

„Was der Deutsche will, ist eine Regierung und eine Reservereg­ierung“

Sebastian Haffner

1980 in „Überlegung­en eines Wechselwäh­lers“

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