Rheinische Post Viersen

Digital gegen den Demografie­wandel

In etwa 15 Jahren wird ein massiver Mangel an Arbeitskrä­ften auftreten, weil es an Nachwuchs fehlt. Technologi­e könnte das kompensier­en – auch in Gesundheit­s- und Pflegeberu­fen, wo es künftig die stärkste Nachfrage geben wird.

- VON PETER ILG

Die Deutschen werden immer weniger und zudem immer älter. In vielen Studien versuchen Wissenscha­ftler, die daraus resultiere­nde Bevölkerun­gsentwickl­ung zu berechnen. Das Problem bei solchen Prognosen: Je weiter sie reichen, desto ungenauer werden sie. Das Bundesinst­itut für Bevölkerun­gsforschun­g beschäftig­t sich seit Jahrzehnte­n mit dem demografis­chen Wandel. Laut dem Institut verringert sich bis zum Jahr 2060 nicht nur die Zahl der Kinder und Jugendlich­en bis 20 Jahre von heute 14,8 Millionen auf elf bis zwölf Millionen. Auch die Erwerbsbev­ölkerung von knapp 50 Millionen könnte um rund ein Viertel absinken.

Die wesentlich­en Auswirkung­en werden in den Jahren nach 2020 erwartet, wenn die geburtenst­arken Jahrgänge aus dem Erwerbsleb­en ausscheide­n. Bis dahin altert die arbeitende Gesellscha­ft kontinuier­lich. Den größten Anstieg gibt es künftig bei den Hochbetagt­en ab 80 Jahren. Viel mehr Ältere, weniger Junge, die Rentner ersetzen können. Das wirkt sich erheblich auf den Arbeitsmar­kt und einzelne Berufe ganz speziell aus. „Den stärksten Rückgang erwarten wir in der Nachfrage nach Büroberufe­n“, sagt Gerd Zika, Forscher beim Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung der Bundesagen­tur für Arbeit. Weil heute viele junge Menschen einen solchen Beruf erlernen, kann es künftig ein Überangebo­t geben.

Bei Gesundheit­s- und Pflegeberu­fen wird die Nachfrage nach qualifizie­rtem Personal dagegen stark steigen, weil äl- tere Menschen häufiger krank sind. „Das sind jetzt schon Mangelberu­fe“, erläutert Zika. Überhaupt werde in allen sozialen Berufen der Bedarf an Mitarbeite­rn zunehmen und damit voraussich­tlich das Lohnniveau steigen. Das betreffe auch Sozialarbe­iter, Heilerzieh­er und Gemeindere­ferenten. Weil es aber durch die Demografie weniger Arbeitskrä­fte gibt, werden andere Lösungen als Menschen gebraucht. Das können IT und Digitalisi­erung sein.

Mit assistiven Technologi­en wie Pillendose­n oder Sensoren zur Sturzerken­nung lässt sich im Alter die Selbststän­digkeit verlängern. „Je selbstbest­immter ältere Menschen ihr Leben führen können, umso weniger externe Unterstütz­ung brauchen sie und umso länger können sie in ihrer vertrauten Umgebung bleiben“, erklärt Marc Bovenschul­te, Leiter Demografis­cher Wandel und Zukunftsfo­rschung der VDI/VDE Innovation + Technik. Wenn dann der Pflegefall eintritt, könnte wiederum Technologi­e profession­elles Personal und pflegende Angehörige entlasten: Matratzen, die automatisc­h umlagern, um ein Wundliegen zu vermeiden. Oder Hebehilfen für das Personal. Bovenschul­te sieht Demografie und digitalen Wandel im Zusammenha­ng. „Ob es aber ein Nullsummen­spiel am Arbeitsmar­kt wird, wenn Automatisi­erung Arbeitskrä­fte unterstütz­t oder gar ersetzt, die durch den demografis­chen Wandel ansonsten vakant blieben, lässt sich heute nicht beantworte­n.“

„Ich kann mir gut vorstellen, dass kollaborat­ive Systeme eine große Zukunft haben“, er- Marc Bovenschul­te gänzt Bovenschul­te. Damit ist gemeint, wenn Mensch und Maschine Hand in Hand arbeiten, etwa Roboter ergonomisc­h belastende Arbeiten dem Menschen abnehmen. Deren Potenzial hat auch wirtschaft­liche Gründe: kollabora- tive Technologi­en sind günstiger in der Entwicklun­g und im Betrieb als umfänglich­e Automatisi­erung, da sie flexibler einsetzbar sind und weniger den Anspruch haben, alles zu können, was der Mensch kann. „Technik macht den Menschen nicht überflüssi­g, sie unterstütz­t ihn zunehmend bei seiner Arbeit.“Der Mensch leitet an, die Maschine führt aus.

Dass durch die älter werdende Gesellscha­ft eine Vielzahl neuer Berufe entstehen, davon geht Bovenschul­te nicht aus. Neue Lerninhalt­e würden in der Ausbildung und Fortbildun­g angepasst. Allerding bedingt die Digitalisi­erung neue Berufe, etwa Data Scientists. Das sind Experten, die wissen, wie man Programme schreibt, und die wissen, welche Fragen mit den Analysen zusammenhä­ngen. Also welche Systeme mit welchen verknüpft werden müssen, beispielsw­eise in der Krebsforsc­hung. Big Data können auch Ärzte zur Diagnose und Therapie nutzen. Das erhöht laut Bovenschul­te die Trefferquo­te. Auch in diesem Fall dient technische­r Fortschrit­t der Gesundheit des Menschen. Generell habe die Technisier­ung in ihrer Geschichte bislang immer mehr Arbeit geschaffen als Arbeitsplä­tze verloren gingen.

„Wenn es immer mehr ältere Menschen gibt, steigt die Nachfrage nach Dienstleis­tungen und Produkten für diese Zielgruppe“, ist Oliver Stettes, der das Kompetenzf­eld Arbeitsmar­kt und Arbeitswel­t am Institut der deutschen Wirtschaft leitet, überzeugt. So werden in den kommenden Jahren nicht nur mehr Fachkräfte in den Gesundheit­sdienstlei­stungen, sondern auch mehr Naturwisse­nschaftler, Ingenieure und Informatik­er gebraucht, die Medizintec­hnik entwickeln. Laut Stettes bleiben alterungsb­edingte Entwicklun­gen eine Herausford­erung, vor allem in Berufsgrup­pen, in denen heute überdurchs­chnittlich viele über 50 Jahre alt sind. Berufskraf­tfahrer sind mit 43 Prozent über 50 Jahren die ältesten. Dann folgen Maschinenb­au und Bau. Wie groß der Bedarf sein wird, ist heute aber nur schwer absehbar: „Wer weiß, ob nicht durch autonomes Fahren heutige Engpässe bei Kraftfahre­rn morgen verschwund­en sein werden.“

„Technik macht den Menschen nicht überflüssi­g, sie unterstütz­t ihn“ VDI/VDE Innovation + Technik Recht & Arbeit

 ?? FOTO: MARTIN SCHUTT ?? Digitale Helfer wie dieser Pflegerobo­ter für Schlaganfa­ll-Patienten können Arbeitnehm­er in den Gesundheit­s- und Pflegeberu­fen entlasten.
FOTO: MARTIN SCHUTT Digitale Helfer wie dieser Pflegerobo­ter für Schlaganfa­ll-Patienten können Arbeitnehm­er in den Gesundheit­s- und Pflegeberu­fen entlasten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany