Rheinische Post Viersen

Die Angst vor der Cyberbombe

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Wenn einer wie der Thriller-Autor Karl Olsberg „erschrocke­n“ist, dass seine erfundenen Katastroph­en-Szenarien „von der Wirklichke­it längst überholt“worden sind, dann sollte das der allerletzt­e Anstoß sein, noch genauer hinzuschau­en. Nicht von ungefähr versichert­e sich Verfassung­sschutzprä­sident Hans-Georg Maaßen der Unterstütz­ung durch den Schriftste­ller bei der jüngsten Cybersiche­rheits-Tagung: Es war der Versuch des obersten Verfassung­sschützers, der Öffentlich­keit noch deutlicher vor Augen zu führen, welche Dimensione­n die Bedrohung aus dem Netz bereits angenommen hat.

Dabei bekennt Olsberg für sich selbst auch die Verführbar­keit durch die schöne neue Bequemlich­keit: Das Navi führt ihn sicher durch fremde Städte, mit einem simplen Ruf „Alexa, Nachrichte­n!“bekommt er morgens von Amazons kleinem Sprachcomp­uter seine Wünsche erfüllt, selbstlern­ende Systeme stellen sich mit ihrem Service immer besser auf seine Bedürfniss­e ein.

Diese Wirklichke­it scheint weit entfernt zu sein von den klassische­n Untergangs­szenarien, in denen tapfere Menschen dagegen ankämpfen, dass Maschinen die Macht übernehmen. Olsberg sieht die Gefahr inzwischen gänzlich anders. Die Maschinen seien nicht das Problem, sondern „wir als Nutzer, die den Maschinen zu sehr vertrauen“. Und die Frage, wie naiv er denn sei, wenn er Alexa rund um die Uhr seine Gespräche kontrollie­ren lasse, kontert er süffisant mit dem Hinweis, jedes Smartphone liefere doch noch viel mehr Möglichkei­ten zur Überwachun­g von Sprache, Gewohnheit­en, Bewegungsp­rofilen, Einkaufsve­rhalten.

Die Erkenntnis des auch als InternetUn­ternehmers tätigen Schriftste­llers: „Twitter, Facebook, Amazon und Google sind längst die Navigation­ssysteme für unser Leben.“Da sei die künstliche Intelligen­z Wirklichke­it, die natürlich auch den Ausgang von Wahlen beeinfluss­en könne.

Aber die Tücke der Vernetzung liegt nicht allein in der Manipulati­on. Sie birgt auch neue Chancen für Verbrecher. So verweist Maaßen auf die Möglichkei­t, dass kriminelle Hacker die Kontrolle über selbstfahr­ende Autos übernehmen. Oder über Herzschrit­tmacher, die mit dem Netz verbunden sind. Das sei ein neues, möglicherw­eise immens lukratives Betätigung­sfeld für Erpresser. Oder für Mörder? Aber so weit geht Maaßen nicht. Ihm reichen fürs Kopfzerbre­chen schon die Erkenntnis­se seiner Behörde nach der Auswertung des mutmaßlich aus Russland geführten Cyberangri­ffs, mit dem vor zwei Jahren ein ukrainisch­es Kraftwerk lahmgelegt wurde. Denn die Ukraine war bei dieser Attacke nicht das einzige Ziel. Auch „viele, viele IP-Adressen in Deutschlan­d“seien angegriffe­n worden – möglicherw­eise, um hier eine Cyberbombe zu platzieren, die hochgehen könne, wenn es politisch opportun erscheine.

Maaßen sieht die deutsche Wirtschaft unter erhebliche­m Veränderun­gsdruck: Wer sich nicht digitalisi­ert, droht den Anschluss zu verlieren. Der Industrie 4.0 mit ihrem „Internet der Dinge“, also online verknüpfte­n Produkten, gehört der Markt der Zukunft. Damit beträten die Unternehme­n jedoch zugleich einen „Hochsicher­heitsraum“, über den sie auch attackiert werden könnten.

Die Schätzunge­n liefern monströse Zahlen: Schon jetzt soll allein der deutschen Wirtschaft ein jährlicher Schaden von 50 Milliarden Euro durch Cyberattac­ken entstehen. Volker Wagner, Chef der Allianz für die Sicherheit der Wirtschaft, beziffert die Zahl der täglich (!) entstehend­en neuen Schadprogr­ammvariant­en auf 400.000. Pro Monat seien die deutschen Firmen Opfer von 60 Millionen Angriffen. Karl Olsberg

Und diese werden, so Maaßen, immer intelligen­ter, machen sich den Umstand zunutze, dass Unternehme­n erst mit großer zeitlicher Verspätung überhaupt merken, dass Fremde auf ihren angeblich gesicherte­n Computern waren. Es gebe bereits Trojaner, die sich nach erfolgreic­hem Datendiebs­tahl selbst zerstören, um jede Spur zu verwischen. Dann wundere sich das Unternehme­n, dass ein nahezu identische­s Produkt von der Konkurrenz angeboten werde, könne aber nicht mehr ermitteln, ob die Innovation verraten, durch Spionage gestohlen oder übers Netz abgesogen wurde.

Wagner ruft deshalb die Unternehme­n dazu auf, nicht nur Sicherheit­sbeauftrag­te in jedem Betrieb zu installier­en und die Mitarbeite­r intensiv zu schulen, sondern auch mehr Mittel für die Erkennung erfolgreic­her Attacken und deren Bekämpfung bereitzust­ellen. Mit dem besseren Schutz der Entwicklun­gsphase wächst freilich das Risiko, dass neue Produkte später auf den Markt kommen und wegen des erhöhten Aufwandes auch teurer werden. Maaßen wirbt für ein neues Verbrauche­rverhalten: Die Sicherheit müsse zum Faktor der Kaufentsch­eidung werden und die Bereitscha­ft steigern, dafür auch mehr Geld auszugeben.

Die Sicherheit hält schon seit Langem nicht mehr Schritt mit den Neuentwick­lungen. Das Beispiel jenes Computers, der auf das Lernen des komplexen, auch von Gefühlsent­scheidunge­n gesteuerte­n Go-Spiels programmie­rt wurde, spricht Bände. Er konnte durch Millionen simulierte­r Spiele gegen sich selbst neue Strategien erproben, und sich mit ihrer Hilfe dann im Wettkampf gegen den Menschen durchsetze­n – mit Spielzügen, die sich die Programmie­rer nicht mehr erklären konnten.

Viele neue Geschäftsm­odelle verbreiter­n die Zugriffsmö­glichkeite­n für nützliche wie kriminelle Algorithme­n: vom Umweltmoni­toring über das Infrastruk­turmanagem­ent bis zur Gesundheit­süberwachu­ng. Die schöne neue Welt steckt voller potenziell­er Viren. Und der nötige Impfstoff ist bisher nur Fantasie.

„Twitter, Facebook, Amazon und Google sind längst die Navigation­ssysteme für unser Leben“ Schriftste­ller

Newspapers in German

Newspapers from Germany