Rheinische Post Viersen

„Wir brauchen funktionie­rende Grenzen“

Nur starke Staaten werden in der Lage sein, das Elend in der Welt zu bekämpfen. Davon ist der Philosoph Julian Nida-Rümelin überzeugt.

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DÜSSELDORF Milliarden Menschen leben in Armut, Staaten weltweit zerbrechen und treiben ihre Bürger in die Flucht. In seiner „Ethik der Migration“denkt der Philosoph und frühere Kulturstaa­tsminister Julian Nida-Rümelin (SPD) über die Verantwort­ung des Einzelnen und die Pflichten von Staaten nach.

Warum sind Sie gegen eine Migrations­politik der offenen Grenzen?

NIDA-RÜMELIN Wir leben immer noch in einer Welt geschlosse­ner Grenzen, das vergessen viele. Der Schengenra­um in Europa war eine Ausnahme, aber selbst der ist wieder ausgesetzt, im Moment wird an der Grenze zwischen Bayern und Österreich kontrollie­rt. Ich denke, wir brauchen beides: eine funktionie­rende globale Ökonomie – es ergibt also keinen Sinn, wieder in nationale Ökonomien zurückzuwo­llen, aber wir brauchen auch funktionie­rende Staatlichk­eit. Und eine Voraussetz­ung dafür sind funktionie­rende Grenzen. Ein Staat muss wissen, wer sich wie lange auf seinem Gebiet aufhält.

Ist es denn nicht unethisch, wenn Menschen in reichen Ländern ihre Macht nutzen, um Menschen, die zufällig in einem armen Land geboren wurden, daran zu hindern, ihre Lage zu verbessern?

NIDA-RÜMELIN Wir leben in einem privilegie­rten Land, das ist richtig. Und Eliten weltweit schotten sich immer mehr ab. Viele Menschen haben in ihrer Heimat schlicht keine Perspektiv­e. Problemati­sch ist die Vorstellun­g, wir könnten diese Ungerechti­gkeit durch offene Grenzen beheben. Die meisten Flüchtling­e retten sich in Nachbarlän­der, sie weichen vor konkreter Gefahr in naheliegen­de Gebiete aus. Wer es bis nach Europa oder in die USA schafft, gehört in der Regel nicht zu den Elenden. Wer von weniger als 1,25 US-Dollar Kaufkraft am Tag leben muss, hat nicht die Mittel, um von Ghana oder Eritrea nach Lampedusa oder Griechenla­nd zu kommen. Die Grenzöffnu­ngsbefürwo­rter haben auch ganz falsche Vorstellun­gen von der Zahl an Menschen, die sich in Bewegung setzen könnte. 1,2 Milliarden Menschen leben unter der absoluten untersten UN-Armutsgren­ze von 1,25 US-Dollar am Tag. Die Vorstellun­g, man könne dieses Elend mindern, indem wir Flüchtling­e aufnehmen, ist absurd.

Was dann tun gegen die Ungerechti­gkeit weltweit?

NIDA-RÜMELIN Darauf gibt es nur eine unbequeme Antwort: Wir brauchen eine andere Weltwirtsc­haftsordnu­ng, die uns auch viele Nachteile bringen würde.

Globale politische Prozesse sind zäh. Es wird also weiter Familien geben, die ihr Geld zusammenkr­atzen, um einen Sohn über das Mittelmeer zu schicken. Wie wollen Sie die stoppen?

NIDA-RÜMELIN Sie spielen auf das Thema der Grenzsiche­rung an, das hochbrisan­t erscheint. Es geht im Kern aber gar nicht um Zäune und Küstenwach­en, sondern allein um funktionie­rende Staatlichk­eit. Wenn es junge Männer aus der Subsahara nach Italien schaffen, kön- nen sie den Traum vom besseren Leben nur verwirklic­hen, wenn sie gemeldet sind, ein Aufenthalt­srecht bekommen und sich Arbeit suchen können. Funktionie­rende Staatlichk­eit genügt also, um zu klären, wer ein Aufenthalt­srecht hat, wer nicht. Dann beginnen natürlich die Probleme, etwa mit der Abschiebun­g. Es bricht einem das Herz, wenn Menschen drei Jahre in Deutschlan­d gelebt haben, die Kinder zur Schule gehen, und sie dann wieder abgeschobe­n werden sollen und alle Hoffnungen zerbrechen. Die Anerkennun­gsprozesse müssen also viel schneller gehen. Wir müssen Kriterien schaffen, nach denen man sehr viel schneller entscheide­n kann, wer bleiben darf und wer nicht. Dabei wird das deutsche Asylrecht eine Rolle spielen müssen, die Genfer Flüchtling­skonventio­n, EU-Normen zum subsidiäre­n Schutz. All das ist aber nur sinnvoll, wenn man auch entscheide­t, dass die, die kein Aufenthalt­srecht bekommen, wieder gehen müssen.

Damit bleibt es dabei, dass der Zufall der Geburt entscheide­t, welche Chancen ein Mensch bekommt.

NIDA-RÜMELIN Ja, aber diese Ungerechti­gkeit besteht auch innerhalb von Staaten. Die privilegie­rten Länder sind allerdings verpflicht­et, sich für mehr Gerechtigk­eit in der Welt einzusetze­n. Das tun wir bisher nur sehr wenig. Wer redet etwa über das geplante ökonomisch­e Abkommen der EU mit westafrika­nischen Staaten. In Afrika gibt es große Sorgen, dass dieses Abkommen Abhängigke­iten schaffen und die lokale Wirtschaft schädigen wird. Aber wir diskutiere­n nur über TTIP. Da liegen die Defizite. Die Welt sieht anders aus, als wir wahrhaben wollen. Aber eine großzügige Aufnahmepo­litik wird das höchstens verschlimm­ern, weil sie die leistungsb­ereite Jugend aus den armen Ländern abzieht.

Jahrzehnte hat die reiche westliche Welt die Augen vor dem Elend etwa in Afrika verschloss­en, das fand im Fernsehen statt. Nun sind die Menschen hier. Müssen wir darauf nicht anders reagieren, als durch Abschottun­g und den Verweis auf langwierig­e weltpoliti­sche Reformen?

NIDA-RÜMELIN Ja, wir kannten die Fakten, aber wir mussten sie nicht emotional fassen. Das ist jetzt anders. Und das ist eigentlich positiv. Wir bekommen jetzt in Konturen ein Gefühl für eine Weltgesell­schaft, die extrem ungerecht ist. Und daraus folgt die Verantwort­ung, uns auch um die Gestaltung dieser Weltgesell­schaft zu kümmern.

Bisher versuchen die reichen Staaten nur, ihre Privilegie­n zu schützen.

NIDA-RÜMELIN Was würde es der Weltgesell­schaft nützen, wenn wir in Europa die Sozialstaa­tlichkeit abwrackten? Ich glaube, die relativ stark entwickelt­en Ökonomien sind nun gefordert, an Strukturen zu arbeiten, damit die Welt insgesamt eine Entwicklun­gsperspekt­ive bekommt, nicht nur ein paar Schwellenl­änder.

Die Hauptursac­he von Flucht sind zerfallend­e Staaten. Da gibt es derzeit wenig Grund für Optimismus.

NIDA-RÜMELIN Wir müssen ehrlich betrachten, welche Rolle der Westen beim Zerfall vieler Staaten gespielt hat, im Irak, in Afghanista­n, Libyen, Syrien. In all diesen Staaten trägt der Westen eine Mitschuld, weil er problemati­sche Regime verändern wollte, ohne zu wissen, wie es weitergehe­n sollte. Eine Folge dieses leichtfert­igen Umgangs mit politische­n und religiösen Konflikten ist der Terror, der sich weltweit etabliert. Ziel internatio­naler Politik muss es also vermehrt sein, Staatlichk­eiten zu erhalten. Auch wenn es keine lupenreine­n Demokratie­n sind. Und dort, wo Staatlichk­eit schon nicht mehr existiert, sollte man nicht War-Lords unterstütz­en, sondern in den Aufbau von Institutio­nen investiere­n. Das sind Lehren aus der aktuellen Entwicklun­g. DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: DPA Flüchtling­e überqueren illegal die ungarische Grenze.

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