Rheinische Post Viersen

Der ganze Uwe Johnson in 24 Jahren

Die Rostocker Werkausgab­e ist mit den „Mutmassung­en über Jakob“gestartet.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

ROSTOCK Solche literarisc­hen Großprojek­te haben heute ja Seltenheit­swert. Aber dass es sie immer noch gibt, nährt die Hoffnung an ein weiterhin vitales literarisc­hes Gedächtnis. Und die jetzige Unternehmu­ng verdient darin einen Ehrenplatz: In den kommenden 24 Jahren soll die Werkausgab­e von Uwe Johnson (1934-1984) vollständi­g publiziert worden sein – in 43 Teilbänden. Ein Großvorhab­en der BerlinBran­denburgisc­hen Akademie der Wissenscha­ften an der Uni Rostock, und ohne eine finanziell­e Unterstütz­ung des Unternehme­rs und Johnson-Fans Ulrich Fries wohl kaum machbar.

Das alles hört sich jetzt ziemlich wissenscha­ftlich und für den Alltagsles­er wie Du und Ich nur bedingt wissenswer­t an, läge mit dem ersten Band der Rostocker Ausgabe nicht der Roman vor uns, der es damals und noch heute verdient, ein Ereignis genannt zu werden. Denn die „Mutmassung­en über Jakob“ist für die deutschspr­achige Nachkriegs­literatur ein Jahrhunder­troman. Auch mit ihm ging das Jahr 1959 in die Geschichte der drei großen deutschen Romane ein: Neben den „Mutmassung­en“gehören dazu die „Blechtromm­el“von Grass und Bölls „Billard um halbzehn“. Im Jahr der „Mutmassung­en“wechselte Johnson auch die staatliche­n Seiten und zog von Ost- nach West-Berlin. Die „Mutmassung­en“sind in der historisch-kritischen Ausgabe mit klugem Nachwort und sorgsamer Textkommen­tierung auf über 460 Seiten angewachse­n. Aber kein Grund zur Furcht: Man lernt und erfährt viel über die Textentste­hung und die Publikatio­nsgeschich­te, über das Eisenbahnw­esen und die Zeit der deutschen Teilung. Das ist der Kosmos einer Schicksals­geschichte, die mit und in den Romanfigur­en Jakob Abs und Gesine Cresspahl erzählt wird. Sehr modern, sehr ergreifend, zeitlos. Und wer in diesem fast 60 Jahre alten Buch zu lesen beginnt, ist schon mit dem ersten Satz gefangen von Johnsons Sprachzaub­er: „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen.“

Ein Erlebnis, keine Frage. Und die Herausgebe­r waren clever genug, nicht mit dem Debüt („Ingrid Babenderer­de“) des gebürtigen Pommern zu starten, sondern mit seinem Klassiker. Denn jetzt sind wir alle für die nächsten zweieinhal­b Jahrzehnte – pardon – angefixt.

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FOTO: RÖHNERT Uwe Johnson

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