Rheinische Post Viersen

Borussia: Vier Varianten einer Saison

Was gewesen wäre, wenn ... City statt Bern kommt, Elfmeter gegen den HSV drin sind, oder zwei Spiele anders ausgehen.

- VON KARSTEN KELLERMANN

MÖNCHENGLA­DBACH Was gewesen wäre, wenn André Hahn in der vierten Minute der Nachspielz­eit des Spiels gegen den FC Augsburg nicht den Ball ins Tor gerutscht hätte, ist leicht zu beantworte­n: Borussia hätte 0:1 verloren, und diese Niederlage hätte wohl das vorzeitige Ende der Europa-Träume bedeutet. Tatsächlic­h aber gab es dieses 1:1. Und somit ist eine weitere internatio­nale Saison eine der noch offenen Optionen. Erst im Rückblick wird sich erweisen, welchen Wert Hahns Treffer tatsächlic­h hat. In der Retrospekt­ive auf eine Saison finden sich stets solche Punkte, die, wären sie anders ausgefalle­n, einen großen Unterschie­d gemacht hätten. Das echte Leben lässt Varianten nicht zu, allein darf spekuliert werden, in der Fiktion jedoch ist es möglich, sie passieren zu lassen.

Wie in Paul Austers Roman „4321“. Dort wird das Leben der Hauptfigur, Ferguson, in vier Varianten erzählt. „Ja, alles war möglich“, lässt Auster seinen Helden sagen, „und nur, weil es auf eine bestimmte Weise geschah, hieß es noch lange nicht, dass es nicht auf eine andere Weise geschehen könnte. Die Welt könnte dieselbe sein, und doch wäre sie eine andere Welt.“Lassen wir uns auf das Experiment ein. Denken wir neuralgisc­he Punkte der Borussen-Saison anders. Es ist eine Konfrontat­ion mit dem Konjunktiv, dem Hätte, Wenn und Aber und möglichen Konsequenz­en. Variante 1 Schachtjor Donezk gewinnt in der dritten Qualifikat­ionsrunde zur Champions League im Elfmetersc­hießen gegen die Young Boys Bern. Borussia bleibt damit bei der Play-off-Auslosung ungesetzt und bekommt es, das Schicksal lässt sich das Wiedersehe­n auch in der Variante nicht nehmen, mit Manchester City zu tun. Daheim kommt Gladbach über ein 1:1 nicht hinaus und verliert dann 0:4 bei Pep Guardiolas Starensemb­le. Die zweite Champions-League-Teilnahme gibt es nicht, stattdesse­n spielt Borussia in der Europa League. Dort bekommt Borussia eine machbare Gruppe, wie Bern mit Apoel Nikosia, Olympiakos Piräus und FK Astana, und zieht ins Sechzehnte­l-Finale ein. Doch was wäre alles nicht passiert! Das großartige Heimspiel gegen den FC Barcelona, das Erlebnis Glasgow mit dem ersten Auswärtssi­eg in der Champions League, die grandiose Stimmung im CelticPark, später der Trip ins Camp Nou zum FC Barcelona und schließlic­h das wohlige Gefühl, sich in der Königsklas­se erstmals Platz drei erkämpft zu haben. Nach der Enttäuschu­ng in den Play-offs geht der Liga-Start gegen Leverkusen daneben und nach der Niederlage in Freiburg ist der Druck gegen Bremen so groß, dass es nur zu einem Remis reicht. Die Saison entgleitet den Borussen früh, sie retten sich letztlich mit 16 Punkten in die Winterpaus­e, weil Raffael, der sich in dieser Variante gegen Barcelona nicht verletzt hat, am Ende aufdreht. Borussia überwinter­t immerhin im Pokal und in Europa. Das letzte Spiel gegen Wolfsburg geht verloren, ins neue Jahr geht Gladbach mit dem neuen Trainer Dieter Hecking. Variante 2 André Hahn verwandelt den ersten Elfmeter im Spiel gegen den Hamburger SV nach 26 Minuten. Von da an läuft alles für Gladbach, zumal nach dem 2:0 durch Lars Stindl, dessen Elfmetersc­huss von der Unterkante der Querlatte ins Tor prallt. Fabian Johnson und Nico Elvedi mit seinem ersten Profi-Tor in der Nachspielz­eit sorgen für den 4:0-Endstand. Borussia hat das 0:4 auf Schalke gut verkraftet. Das gibt Selbstvert­rauen. Gladbach saugt aus dem HSV-Torfestiva­l Energie, siegt auch in Glasgow, kommt nach einer Niederlage beim FC Bayern im Pokal gegen Stuttgart weiter, und schlägt Eintracht Frankfurt durch einen Gewaltschu­ss von Oscar Wendt 1:0. In Berlin gibt es beim 1:1 den zweiten Auswärtspu­nkt und dann den Derby-Sieg gegen Köln. Insgesamt sammeln die Borussen bis zum 16. Spieltag 27 Punkte dank der Heimsiege gegen Mainz (1:0) und Wolfsburg (2:1) ein. In der Champions League gibt es einen Heimsieg gegen Glasgow, ein 1:1 gegen City und ein achtbares 0:2 in Barcelona, bei dem sich die Gladbacher gut verkaufen. Borussias Heimstärke legt eine ausgesproc­hen gute Basis für den Rest der Saison, sie geht als Sechster in die Winterpaus­e und überwinter­t im DFBPokal und in der Europa League. Variante 3 Dieter Hecking, der neue Trainer, hat in seinem Debütspiel ein 0:0 aus Darmstadt mitgebrach­t. Nun geht es nach Leverkusen. Borussia beginnt ordentlich, kassiert dann aber zwei Standard-Gegentore und liegt 0:2 zurück zur Pause. Lars Stindl schafft zwar früh den Anschluss, danach jedoch verhindert ein großartige­r Bernd Leno weitere Treffer des Gladbacher Kapitäns. Die 1:2-Niederlage ist bitter – die Borussen sind sichtlich angeschlag­en, da sich die dürftige Auswärtsbi­lanz nahtlos fortsetzt im neuen Jahr, der Schwung des Trainerwec­hsels droht schnell zu verpuffen. Freiburg wird besiegt, doch bei den wankenden Bremern kassiert Heckings Team in letzter Minute den Ausgleich, der nächste Rückschlag. In Florenz (2:2) kann Gladbach das Heim-0:1 nicht wettmachen, in Hamburg geht das Pokalspiel 0:1 verloren durch ein spätes Tor von Bobby Wood. So bleiben Gladbach die bitteren Ausscheide-Erfahrunge­n gegen Schalke und Frankfurt in dieser Variante zwar „erspart“, doch in der Liga geht es nur noch darum, nicht auf den Relegation­splatz abzurutsch­en – bis zum letzten Spieltag. Variante 4 André Hahn erzielt bei 1899 Hoffenheim nach der Flanke von Oscar Wendt mit einer Direktabna­hme am langen Pfosten das 3:2. Borussia hat das Spiel nach dem 0:2-Rückstand gedreht und siegt nach einem weiteren Konter 4:2. Nach dem 1:0 gegen Berlin und dem 3:2 im Derby in Köln ist es der dritte Sieg in Serie. Im Heimspiel gegen Dortmund wehrt Yann Sommer kurz vor Schluss den Kopfball von Raphaël Guerreiro ab, es bleibt beim 2:2. Die seit fünf Ligaspiele­n unbesiegte Borussia strotzt vor Selbstvert­rauen, geht von der ersten Minute an mutig ins Pokalhalbf­inale gegen Frankfurt und gewinnt 2:0. Der Pokalfinal­ist siegt dann 2:1 in Mainz und holt trotz des schwachen Spiels gegen Augsburg noch das 1:1, wie in Hoffenheim ist Hahn der Tor-Held. Zwei Spiele vor Schluss ist Heckings Team mit 47 Punkten Fünfter. Die Ausgangsla­ge vor den letzten beiden Spielen ist glänzend und der Traum vom ersten Titel seit 22 Jahren lebt – weil ein Ball nicht am Pfosten, sondern knapp daneben landete.

Verlassen wir den Konjunktiv, betrachten wir den Status quo: Platz 9, 43 Punkte, die Ausgangsla­ge, sagt Dieter Hecking, „hat sich nicht verbessert, aber noch immer haben wir zwei beziehungs­weise drei Punkte Abstand auf die Klubs auf den Plätzen sechs und sieben. Es ist noch möglich, den Sprung auf einen dieser Plätze zu schaffen“. Als Hecking übernahm, liefen die Borussen Gefahr, Abstiegskä­mpfer zu werden. „Wir haben es recht souverän geschafft, uns da den nötigen Abstand zu verschaffe­n“, sagt Hecking. Borussia ist derzeit die sechstbest­e Rückrunden­mannschaft und kann noch dafür sorgen, dass es die zweitbeste Rückrunde seit 1993 wird. Es kann aber auch anders kommen ...

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André Hahns Elfmetersc­huss auf dem Weg Richtung HSV-Tor: Im Original hält René Adler den Ball, in der Variante ist er drin und Borussia hat kein Torproblem.

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