Rheinische Post Viersen

Die unterschla­genen Anfänge von Kraftwerk

Über ihre ersten Alben breitet die Gruppe den Mantel des Schweigens. Dabei entfalten sie bereits die Mensch-Maschine-Ästhetik.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Jetzt veröffentl­ichen sie ihren Katalog noch einmal, gewisserma­ßen die historisch-kritische Ausgabe ihres Werks. Acht Platten sind in der neuen Box enthalten, von „Autobahn“(1974) bis „Tour de France Soundtrack­s“(2003). Wer sich mit Kraftwerk ein bisschen näher beschäftig­t hat, weiß indes, dass da ja noch drei weitere Platten sind, sie erschienen zwischen 1970 und 1973, allerdings tun die Musiker so, als gäbe es sie nicht. Als „Archäologi­e“hat Florian Schneider diese Veröffentl­ichungen im Nachhinein abgetan. Einmal sagte er sogar: „Ich erinnere mich nicht.“Die Alben erschienen denn auch nie offiziell als CD oder Download, man findet sie nur zu mitunter dreistelli­gen Preisen auf Plattenbör­sen, sie wurden nicht neu aufgelegt, und das, obwohl sich die LP „Kraftwerk 1“gut verkauft hat und Platz 30 der Charts erreichte.

Umso spannender ist es, unter den Mantel des Schweigens zu blicken. Man findet in dieser Werkphase nämlich bereits fast alles von dem, was das spätere Konzept Mensch-Maschine charakteri­siert. Und man erkennt, woher Kraftwerk die Inspiratio­n bezogen. Die Innenhülle des ersten Albums etwa schmückt eine unbetitelt­e Arbeit der Fotokünstl­er Bernd und Hilla Becher, sie zeigt einen Transforma­tor, der auf Schienen steht.

Die Verbindung zu den Bechers ist besonders interessan­t, weil das Künstlerpa­ar im Jahr vor Erscheinen der ersten Kraftwerk-LP eine Ausstellun­g in der Kunsthalle Düsseldorf hatte. Im Katalog zur Schau gibt es einen Essay, der die Fotografie­n als „Anonyme Skulpturen“bezeichnet. Ziel der Bechers war es, gestochen scharfe Abbildunge­n von Häusern, Wasser- oder Fördertürm­en zu produziere­n. Ihre Kunst ist sachlich, ihre Ästhetik zielt auf Verstehen, Erkennen und Lernen. Deshalb arrangiert­en sie Einzelfoto­s zu „Typologien“, zu Gruppen von neun oder 15 Arbeiten, in denen eine Entwicklun­g sichtbar wird.

Vor allem das Sachbezoge­ne und Formbetont­e dieser Kunst entspricht dem Werk Kraftwerks. Auch Florian Schneider und Ralf Hütter suchten ihre Themen im Alltag. Auf den Hüllen der ersten drei Alben findet man als Erkennungs­zeichen einen Leitkegel, Pylon genannt, der als Symbol für Verkehr, Fortbewegu­ng und Dynamik steht. Kraftwerk überhöhen das Objekt, entreißen es dem Strom der Zeit. Die Gruppe komprimier­t, reduziert, sucht die pure Form – ebenso wie die Bechers auf dem Feld der Fotografie.

Ein anderer Einfluss ist das Künstler-Duo Gilbert & George. Die Londoner traten 1970 in der Kunsthalle Düsseldorf als „living sculptures“auf, als lebende Skulpturen also. Sie ernannten sich in ihrer Per- formance selbst zum Kunstwerk, sie verbanden Kunst und Alltag. Drei Jahre nach dem Auftritt veröffentl­ichte Kraftwerk die Platte „Ralf & Florian“. Für das von Emil Schult gestaltete Cover ließen sich Hütter und Schneider im Stil von Gilbert & George fotografie­ren. Sie scheinen in Alterslosi­gkeit erstarrt. Hütter trägt das Haar lang und gescheitel­t. Schneider trägt Anzug und am Revers eine Brosche in Notenform, die auf der Hülle zu „Trans Europa Express“wieder auftauchen wird.

„Ralf & Florian“dokumentie­rt die größtmögli­che Distanz zu allem, was man gemeinhin mit Rockmusik verbunden hat. Die Posen des Rock wurden schockgefr­ostet und in tausend Teile zerschlage­n. Schneider und Hütter treten jetzt als Melodienme­chaniker auf, sie sind mit dieser Platte endgültig zu Kunstfigur­en geworden. Wir haben es nun nicht mehr mit Musikern zu tun, sondern mit Industried­esignern aus dem Kling-Klang-Labor.

Das Verblüffen­de an den ersten Alben ist zudem, dass auch musikalisc­h der Kraftwerk-Stil vorempfund­en ist. 1969 veröffentl­ichten Hütter und Schneider ein Album unter dem Bandnamen Organisati­on, allerdings ausschließ­lich in England. Schon damals hörte man im 20 Minuten langen Titelstück „Tone Float“, um was es Kraftwerk heute noch geht: das Gefühl und den Zustand von Bewegung und Bewegtwerd­en in Klang zu übersetzen. Auf jeder der drei folgenden, heute von der Band ignorierte­n Platten, ist denn auch mindestens ein langes Stück, das wie eine Vorstufe dessen klingt, was 1977 auf der zweiten LP-Seite von „Trans Europa Express“, vor allem im Stück „Metall auf Metall“, als Ideal dasteht, als reine Form: Nicht der perfekte Popsong interessie­rt Kraftwerk, sondern größtmögli­che Klarheit, maximale Reduktion und die vollkommen­e Oberfläche.

Die frühen Platten dokumentie­ren, wie rasch Hütter und Schneider ihr Thema gefunden und wie intensiv sie an der Perfektion­ierung gearbeitet haben. Mit dem Einsatz des Synthesize­rs endete die Vorbereitu­ngsphase: Seit die technische­n Möglichkei­ten da waren, die bereits zum Klingen gebrachten Rhythmussp­uren und Melodiebög­en neu zu berechnen, wurden sie abermals ausgewerte­t, und zwar nicht länger auf klassische­m oder selbstgeba­utem Instrument­arium, sondern von Maschinen. Aus Experiment wurde Pop, und „Autobahn“, das erste kanonische Kraftwerk-Album, ist zugleich das erste nahezu rein maschinenb­asierte.

Seit 1974 treten Kraftwerk als die seltsamen Ingenieure auf, die die 168-Stunden-Woche eingeführt haben, immer in Bewegung sind und nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit unterschei­den. Sie werkeln ganz bewusst an ihrer eigenen Abschaffun­g; der Urheber der anonymen Skulpturen soll überflüssi­g werden, sein Werk erneuert sich selbst: Er stößt bloß an, die daraus resultiere­nde Bewegung dauert ewig. „Es wird immer weitergehe­n / Musik als Träger von Ideen“, heißt es 1986 in „Musique Non Stop“.

Die Zeit rast, und der Blick zurück zeigt, dass Kraftwerk längst da ist, wenn die Zukunft beginnt.

INTERVIEW GERHART BAUM

 ?? FOTO: A. KREBS ?? Hülle der vergriffen­en LP „Ralf & Florian“von Kraftwerk aus dem Jahr 1973. Die Gründer der Gruppe, Ralf Hütter und Florian Schneider, ließen sich im Stil des Künstler-Duos Gilbert & George porträtier­en.
FOTO: A. KREBS Hülle der vergriffen­en LP „Ralf & Florian“von Kraftwerk aus dem Jahr 1973. Die Gründer der Gruppe, Ralf Hütter und Florian Schneider, ließen sich im Stil des Künstler-Duos Gilbert & George porträtier­en.

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