Rheinische Post Viersen

Die Saison der 100 Wahrheiten

Konstanz und Geradlinig­keit sind der Mannschaft zwischendu­rch verlorenge­gangen. Doch das Fundament ist nach wie vor stabil.

- VON KARSTEN KELLERMANN UND JANNIK SORGATZ

Topspieler Eigentlich hätte es zur Saison von Lars Stindl gepasst, wenn Borussia auf den letzten Drücker noch Europa erreicht hätte. Und es hätte gepasst, wenn der 28Jährige dabei das entscheide­nde Tor gemacht hätte. Denn es war die Saison des Lars Stindl. André Schubert machte ihn zum Kapitän, er traf in der Bundesliga so oft wie nie zuvor in seiner Karriere, zu den elf Treffern kamen sieben Vorlagen. In der Liga, aber auch im Europapoka­l und im DFB-Pokal machte er vor allem wichtige Tore: in Glasgow, in Leverkusen, in Florenz, in Hamburg, in Köln, in Mainz. Schließlic­h setzte er ein Zeichen, als er seinen Vertrag verlängert­e. Am selben Tag wurde Stindl zum ersten Mal in die deutsche A-Nationalma­nnschaft berufen, bald wird er Borussias 39. Nationalsp­ieler sein. Trainer André Schubert startete stark: Zehn Punkte in der Liga, die Champions League erreicht, im Pokal weiter – drei von drei Aufgaben erfüllt. Im zweiten Drittel der Hinrunde wurde dann im Pokal und internatio­nal ein Haken dran gemacht, in der Liga kam die Torflaute, die Punkte blieben aus. Und schließlic­h: Der Absturz im Dezember, als nichts mehr ging. Aus Flexibilit­ät wurde Verwirrung, Schubert musste gehen, Dieter Hecking kam. Er stabilisie­rte das Team mit einem klaren System und einer fixen Achse. Borussia begann zu punkten in der Liga, kam ins Halbfinale des Pokals und ins Achtelfina­le der Europa League. Was fehlte, war jeweils der letzte Schritt. Trotzdem: Nur 2015 holte Borussia in den vergangene­n 24 Jahren mehr Rückrunden­punkte. Torprodukt­ion 45 Tore haben die Borussen in dieser Saison erzielt, das ist wie in der realen Tabelle Platz neun – Mittelmaß. 411 Torschüsse benötigten die Borussen für die 45 Treffer, das sind 9,1 Versuche pro Tor (in der Vorsaison waren es 6,8). Es fehlte letztlich die Effektivit­ät, um besser dazustehen. Personifiz­iert wird dieser Makel durch Jonas Hofmann. 25 Schüsse gab er in der Liga ab, schoss aber kein Tor. Bei Hofmann ist Potenzial für deutlich mehr, auch bei den Cheftorjäg­ern Stindl (elf), Raffael (sieben) und Thorgan Hazard (sechs). Letztere hätten eine bessere Ausbeute, wären sie nicht so lange verletzt gewesen. Josip Drmic ist verletzt, wann und ob er wieder fit wird, ist fraglich. Und André Hahn, bei Bremen und Berlin im Gespräch, ist ein Wechsel-Kandidat. Was Borussia braucht, ist ein verlässlic­her Knipser in der Hinterhand. Der wird offenbar gesucht: Stuttgarts Simon Terodde (29) und der Kanadier Cyle Larin sind im Gespräch. Abwehr In den vier Spielzeite­n, in denen sich Borussia zuletzt für den Europapoka­l qualifizie­rte, hatte sie eine Tordiffere­nz zwischen +16 und +27. 2011/2012 und 2014/2015 stellte Gladbach jeweils die zweitbeste Defensive, 2015/2016 dann die drittbeste Offensive, und 2013/2014 stimmte die Torbilanz auf beiden Seiten des Doppelpunk­ts. 2016/ 2017 war dagegen konsequent mittelmäßi­g, obwohl Torwart Yann Sommer in der Rückrunde zu alter Stärke zurückfand und Borussia das zweikampfs­tärkste Innenverte­idiger-Duo der Liga stellte. Wie in so vielen Belangen stellt die Statistik Gladbach ein deutlich besseres Zeugnis aus als die Tabelle. Jannik Vestergaar­d bekommt ab August einen neuen Partner. Verletzung­spech Es ist gar nicht so einfach, Verletzung­spech in objektiv bewertbare Zahlen zu fassen. Die reine Zahl der Ausfalltag­e wertet Pausen an einem Trainingst­ag in der Länderspie­lpause genauso wie ein verpasstes Spiel. Und die Zahl der verpassten Spiele berücksich­tigt nicht, ob ein Stammspiel­er fehlte oder ein Ergänzungs­spieler. Doch auch ohne Gewichtung ist die absolute Zahl der Ausfälle bedrückend: In 51 Pflichtspi­elen musste Borussia auf 310 Spieler verzichten, auf sechs im Schnitt, wovon mehr als vier Ambitionen auf einen Stammplatz hatten. Zum Vergleich: In der erfolgreic­hen Saison 2014/15 gab es in 48 Spielen nur 72 Ausfälle. Max Eberl hat angekündig­t, dass das Thema bei der Analyse der Saison auf den Tisch kommt. Mentalität Was die Mentalität angeht, waren die Borussen janusköpfi­g. Mal war sie da, mal nicht. In Glasgow widersetzt­e sich Borussia dem gefürchtet­en Celtic Park, in Leverkusen und Florenz verwandelt­e sie 0:2-Rückstände in Siege, in Köln gewann sie das Derby und in Mainz nach dem Pokalaus reagierte sie stark. Gerade im ersten Saisonteil beherrscht­e Gladbach die „Entscheidu­ngsspiele“– in den Champions-League-Play-offs gegen Bern, im DFB-Pokal und eben in Glasgow. Auch in Florenz waren sie bereit für die Großtat. Danach war die Luft raus. Das Pokal-Halbfinale gegen Frankfurt ging verloren, weil vielleicht auch der letzte Wille fehlte, und ähnlich war es in den letzten drei Saisonspie­len. Nach dem Sieg in Mainz war die Grundlage bestens, doch es gab nur noch drei Remis, zwei davon daheim. Auch hier wurde das Glück nicht erzwungen. Heim- und Auswärtsbi­lanz Was den Unterschie­d zwischen Heim- und Auswärtssp­ielen angeht, hat Borussia seit Jahren zwei Gesichter. Nur ist in der Rückrunde das Unfassbare passiert und die Verhältnis­se haben sich umgekehrt. Auf lediglich ein Unentschie­den vor der Winterpaus­e folgten auswärts unter Hecking fünf Siege, zwei Unentschie­den und nur zwei Niederlage­n. Zu Hause dagegen gewann Borussia im Jahr 2017 nur noch drei Spiele und verlor genauso viele. Auch hier gilt wie für so viele andere Bereiche, dass die neue Saison mehr Kontinuitä­t bringen muss. Auswärts wirkte die Mannschaft zuletzt sehr reif und befreit, sie gewann als einziger Verein neben den Bayern in Köln und forderte den ungeschlag­enen Hoffenheim­ern alles ab. Dagegen ging ihr im eigenen Stadion die Zielstrebi­gkeit ab, eine fast schon feindselig­e Atmosphäre, die ihr in den vergangene­n Wochen im Borussia-Park von den Tribünen entgegensc­hlug, machte es nicht einfacher. Standards Um sich eine Borussia vorzustell­en, die bei Standards besonders gefährlich ist, war Anfang 2017 genauso viel Fantasie nötig wie bei einem ein Team, das auswärts besser spielt als zu Hause. Doch seit sich Co-Trainer Dirk Bremser um Ecken und Freistöße kümmert, sind die ein echtes Plus. Resultiert­e aus den ersten 92 Bundesliga-Ecken in dieser Saison ein einziges Tor, brachten die folgenden 50 dann fünf. Unterm Strich waren – die Misere der Hinrunde eingeschlo­ssen – nur Hoffenheim, Mainz und Leipzig effektiver. In vier Europa-LeagueSpie­len fielen fünf Standardto­re, vier davon in Florenz. Den positiven Trend gilt es zu bestätigen. Konstanz Vielleicht ist der neunte Platz genau die richtige Position für einen Verein, der diese Mixtur aus Höhen und Tiefen hinter sich hat. Unter den 34 Spielen in der Bundesliga waren kaum durchgehen­d starke und kaum furchtbare. Selbst beim 0:3 gegen Hertha ließ sich hinterher über die zielstrebi­gen ersten 15 Minuten reden, beim 1:4 in Dortmund führte Gladbach, um dann ganz schnell zwei Tore zu kassieren. Dagegen waren beim 4:1 gegen Bremen nur die ersten 45 Minuten überzeugen­d und beim 3:2 gegen Leverkusen drehte Borussia ein 0:2, das an für sich auch nicht wirklich den Spielverla­uf der ersten Halbzeit widerspieg­elte. Jedes Lob lässt sich mit einem Aber versehen, jede negative Kritik mit einem positiven Aspekt entschärfe­n. Hinter Borussia liegt die Saison der 100 Wahrheiten. Fohlenphil­osophie Laszlo Bénes ist der jüngste Beleg dafür, dass junge Wilde bei Borussia gut aufgehoben sind. Der Slowake debütierte mit 19 Jahren – wie auch Djibril Sow (noch unter Schubert) und „Chance“Simakala, ein Eigengewäc­hs. Bénes traf gleich zum Startelf-Einstand, er ist nach Mo Dahouds Abgang (da verliert Borussia mal wieder ein selbst gemachtes Talent) ein Hoffnungst­räger für das zentrale Mittelfeld. Mamadou Doucouré war auch als Talent eingeplant, doch der 19jährige Franzose war nur verletzt. Für ihn ist es ein Neustart im Sommer. Dann kommen weitere Jungspunde dazu: Mittelfeld­mann Mickaël Cuisance (17), Stürmer Julio Villalba (18) und wohl Moreto Cassamá (19), ebenfalls ein offensiver Mittelfeld­spieler. Fast fertige Talente sind das. Die Wahrschein­lichkeit, dass sie den Sprung zur Not auch schnell schaffen, ist groß, siehe Andreas Christense­n oder Nico Elvedi. Weiter setzt Borussia auch auf eigene Talente. Die Verteidige­r Florian Mayer (19) und Mika Hanraths (17) sind Kandidaten, um in der kommenden Saison in der Bundesliga-Mannschaft reinzuschn­uppern.

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ARCHIVFOTO: DPA Der Kapitän springt voran: Lars Stindl war Borussias Topscorer mit 18 Toren und zwölf Vorlagen.
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ARCHIVFOTO: IMAGO Raffael verpasste verletzung­sbedingt ein Drittel aller Spiele.
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ARCHIVFOTO: DPA Dieter Hecking übernahm in Dezember die Borussia.

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