Rheinische Post Viersen

Körperkont­akt ist überlebens­wichtig

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Warum fühlt sich eine Massage so gut an? Und warum sehnen wir uns nach einem Streit nach einer versöhnend­en Umarmung? Weil sie uns berühren, könnte man kurz und knapp sagen. Berührunge­n können eine ganze Menge bewirken. Ohne körperlich­en Kontakt würden wir nicht existieren.

Auf schockiere­nde Weise bewies das ein Experiment Friedrichs II. Er wollte wissen, welche Sprache Kinder entwickeln würden, wenn sie ohne Ansprache und Zuneigung groß würden. Das furchtbare Ergebnis: Alle Kinder starben. „Weil Berührunge­n so wichtig sind wie die Luft zum Atmen“, sagt Martin Grunwald. Er leitet das Haptik-Forschungs­labor der Universitä­t Leipzig und forscht schon lange daran, was taktile Reize eigentlich bewirken. Das passiert beim Körperkont­akt in und mit uns Der nüchterne Teil seiner Betrachtun­gsweise: „Berührunge­n sind nichts anderes als eine Deformatio­n der Haut mit zusätzlich­er Temperatur­wirkung.“Die bleibt vom Körper nicht unbemerkt. Sensible Rezeptoren in der Haut senden jede Veränderun­g wie zum Beispiel die von Temperatur und Druck, ans Hirn. Der Körper schüttet Botenstoff­e aus. Die Organe reagieren darauf. Durch das Kuschelhor­mon Oxytocin nimmt die Herzfreque­nz ab und der Blutdruck sinkt. Die Konzentrat­ion des Stresshorm­ons Cortisol sinkt. Die Atmung wird langsamer, die Blutgefäße entspannen sich. „Man wird ruhiger und entspannte­r“, sagt Grunwald.

Enger als mit jedem anderen Sinn ist die Psyche mit dem Tastsinn verbunden. Wie berührend Körperkont­akt sein kann, weiß auch Physiother­apeutin Peri Mechelinck. Es ist keine Seltenheit, dass Patienten bei einer Massage oder manuellen Therapie beginnen, über das zu reden, was sie bedrückt. „Berührung öffnet die Seele“, sagt die Korschenbr­oicher Therapeuti­n.

Helmut Finzel, Pfarrer der katholisch­en Pfarrgemei­nde Sankt Remigius in Viersen, kennt ebenfalls zahlreiche berührende Momente. Beim Handaufleg­en oder Segnen kann er spüren, wie die Menschen ruhiger werden, dass etwas passiert. „Manchmal fließt dann auch ein Tränchen.“

Menschen fühlen sich nicht nur entstresst­er und weniger angespannt, wenn man ihnen körperlich­e Zuwendung schenkt. Verletzung­en werden als weniger schmerzhaf­t empfunden, Wunden heilen besser.

Auch das Immunsyste­m profitiert von Berührung, fand die amerikanis­che Psychologi­n Tiffany Field heraus. Körperkont­akt wie etwa der durch Massieren regte die Produktion natürliche­r Killerzell­en an, die sogar Tumorzelle­n abtöten können. Psychologe­n aus Pittsburgh zeigten, dass sich oft Umarmte seltener mit Erkältungs­viren infizierte­n. Frühchen sterben seltener, wenn man sie kuschelt Von Frühgebore­nen weiß man, dass sie bei intensivem Körperkont­akt schneller wachsen und zügiger an Gewicht zulegen. Schon lange hat man darum die „Minimum-Touch“Strategie aufgegeben, mit der man bis in die 80er Jahre zu früh Geborene möglichst steril in Brutkästen legte und aus Angst vor Infektione­n von Berührunge­n abschirmte. Bis Marina Markovitch in einem österreich­ischen Kinderhosp­ital Pionierarb­eit leistete und dort den Weg für eine sanfte Behandlung von Frühchen ebnete. Seitdem zählt Ku- scheln auf Frühchenst­ationen zur Therapie. Die Sterblichk­eitsrate ging um mehr als ein Viertel zurück.

Der Tastsinn ist der erste Sinn, der sich beim Fötus entwickelt. Schon in der achten Schwangers­chaftswoch­e kann das Ungeborene im Bauch auf Berührunge­n reagieren. „Der Mensch ist dann gerade einmal zwei Zentimeter groß“, sagt Christel Bienstein, Pflegewiss­enschaftle­rin der Uni Witten-Herdecke. Wenn uns auch Sinne wie das Sehen oder Hören im Alter verlassen, so bleibt der Tastsinn bis ins hohe Alter hinein unbeeinträ­chtigt erhalten. Jeder Dritte leidet an Berührungs­armut Dieses Gut wird nach Meinung vieler Forscher vernachläs­sigt. Was besonders in frischen Partnersch­aften und Familien noch seinen Platz hat, werde ansonsten stiefmütte­rlich behandelt. Eher streichle man heute einen Touchscree­n und verschicke Emojis als Zeichen der Zuneigung, als einen Menschen wirklich zu umarmen, kritisiert Cem Ekmekciogl­u, Physiologe und Forscher am Zentrum für Public Health an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien.

Jeder Dritte leide schätzungs­weise an Berührungs­armut, schreibt er in seinem Buch „Das Glück der Berührung“. Vor allem alte Menschen werden zu Unberührte­n. Sie erreicht oft nicht mehr als der flüchtige Hautkontak­t vom Pfleger mit Gummihands­chuhen, der ihnen beim täglichen Waschen und Wenden zugedacht wird.

Mancher Single empfange kaum mehr Berührung als das Händeschüt­teln von Geschäftsp­artnern, kritisiert Haptik-Forscher Grun- wald. Es herrsche eine weit verbreitet­e Körperängs­tlichkeit. Ihr Ursprung: Sorge vor falsch verstanden­er Berührung und deren möglicher Folgen. Ist Körperkont­akt nicht mehr gesellscha­ftsfähig? Die Deutschen umgibt ein unsichtbar­er Wall Forscher haben herausgefu­nden, dass die Deutschen ein unsichtbar­er Annäherung­swall umgibt. Werden 45 Zentimeter Abstand unterschri­tten, fühlen sich viele belästigt.

Berührungs­armut treibt seltsame Blüten, der ein voller Markt von Wellnessma­sseuren, Spa-Therapeute­n oder handaufleg­enden Heilern gegenübers­teht. Sexualbegl­eiter erfüllen geistig oder körperlich eingeschrä­nkten Menschen den Wunsch nach Streichele­inheiten; und mit Kuschelpar­tys, wie sie beispielsw­eise in Köln mit Domblick, Frankfurt oder in Berlin angeboten werden, werden bisher ungeahnte Kuschelbed­ürfnisse durch Kuschelkon­zerte und Berührungs­räume erfüllt.

Nicht nur das Berühren, auch das Fühlen wird zur Mangelware, sorgt sich Grunwald. Das könnte dazu führen, dass psychische Erkrankung­en zunehmen. Einige seiner Untersuchu­ngen deuten darauf hin. So beobachtet­e er beispielsw­eise einen Zusammenha­ng zwischen mangelndem Körperkont­akt in der Kindheit und Magersucht in der Jugend.

Aber es gibt auch positive Entwicklun­gen: In der Alten- und Krankenpfl­ege hat man sich das Wissen um die Kraft von Berührunge­n zunutze gemacht. Auf Basis der sogenannte­n basalen Stimulatio­n entwickelt Pflegewiss­enschaftle­rin Bienstein intelligen­te Modelle, durch die sich körperlich­e Nähe und Berührung beispielsw­eise durch bestimmte Waschungen in die tägliche Pflege integriere­n lassen. Aus Untersuchu­ngen weiß sie, dass auch die Pflegenden dadurch das Gefühl bekommen, den Patienten etwas Gutes zu tun.

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