Rheinische Post Viersen

Wachstum braucht Zuwanderun­g

- VON JAN DREBES

BERLIN Deutschlan­d dürfte eigentlich für viele ausländisc­he Arbeitnehm­er wie eine Insel der Glückselig­en wirken: anhaltende­r Wirtschaft­sboom, steigende Löhne und Gehälter, geringe Jugendarbe­itslosigke­it. Hinzu kommen ein verhältnis­mäßig hohes Maß an öffentlich­er Sicherheit und gute Versorgung im Krankheits­fall. Unter dieser hübschen Oberfläche brodelt es bei den Unternehme­n jedoch schon lange. Ein wesentlich­er Grund ist, dass Experten zufolge jedes Jahr bis zu 400.000 gut ausgebilde­te Arbeitskrä­fte fehlen. Und die bisherige Zuwanderun­g von Menschen, die hier Arbeit suchen oder bereits einen Arbeitsver­trag in der Tasche haben, kann das bei Weitem nicht auffangen.

Frische Zahlen aus dem Ausländerz­entralregi­ster, die die Bundesregi­erung auf Anfrage der Grünen verschickt­e und die unserer Redaktion vorliegen, unterfütte­rn das. Demnach reisten im Jahr 2016 nur 39.897 Menschen aus Nicht-EU-Ländern nach Deutschlan­d „zum Zweck der Erwerbstät­igkeit“oder mit der sogenannte­n Blue Card ein. Rund 14.000 von ihnen bekamen eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng ohne qualifizie­rte Beschäftig­ung, etwas mehr als 17.000 mit qualifizie­rter Beschäftig­ung. 6643 kamen 2016 mit einer Blue Card der EU, knapp 1400 wiesen eine selbststän­dige oder freiberufl­iche Tätigkeit nach. Auch 365 Forscher waren unter den knapp 40.000.

Im vergangene­n Jahr erhielten den Daten zufolge insgesamt zwar knapp 85.000 Personen eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng, damit sie eine Stelle antre- ten oder Arbeit suchen konnten. 44.216 von ihnen waren aber schon vor 2016 eingereist. „Die Zahlen belegen, dass wir von einer bedarfsger­echten Einwanderu­ng von Fachkräfte­n meilenweit entfernt sind“, sagt Brigitte Pothmer, arbeitsmar­ktpolitisc­he Sprecherin der Grünen-Fraktion, die die Anfrage an die Bundesregi­erung gestellt hatte. „Bei über einer Million offener Stellen und nur 40.000 eingewande­rten Fachkräfte­n aus Drittstaat­en muss man kein Mathe-Genie sein, um zu erkennen, dass das vorne und hinten nicht ausreicht“, so die Bundestags­abgeordnet­e. Welcher Mangel an hochqualif­izierter Zuwanderun­g herrscht, machen die Zahlen ebenfalls deutlich. Demnach erhielten 2016 lediglich 222 Personen eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng, um hier nach einem Arbeitspla­tz zu suchen. Das dürfen nur Ausländer, die über einen deutschen, einen anerkannte­n oder vergleichb­aren Hochschula­bschluss verfügen. 71 von ihnen kamen 2016 nach Deutschlan­d, 151 waren bereits im Land.

Jüngst meldete der Deutsche Industrie- und Handelskam­mertag, dass die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr eine halbe Million zusätzlich­e Stellen schaffen wolle. Unternehme­n bezeichnet­en einer DIHK-Umfrage zufolge den Fachkräfte­mangel bereits als „Top-Risiko“. Und im Januar veröffentl­ichte die Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t Ernst & Young eine Studie, wonach 80 Prozent der befragten Mittelstan­dsunterneh­men Probleme bei der Mitarbeite­rsuche hätten. Der Analyse zufolge entgehen den Firmen, die weit mehr als 90 Prozent der Wirtschaft­sstruktur in Ernst & Young-Studie Deutschlan­d ausmachen, allein wegen des Fachkräfte­mangels mehr als 50 Milliarden Euro an Umsatz.

Dabei ist das Klagelied vom Facharbeit­ermangel ja nicht neu. Warum gelingt es der Bundesregi­erung und den hiesigen Unternehme­n bisher nicht, die Zuwanderun­g qualifizie­rter Menschen zu erhöhen? Ist Deutschlan­d vielleicht doch nicht so attraktiv? „Die Bundesrepu­blik, vor allem der Westen, war traditione­ll noch nie ein Land, das besonders qualifizie­rte Arbeitskrä­fte angezogen hat“, sagt Andreas Peichl, Leiter des Zentrums für Konjunktur­forschung am Münchner Ifo-Institut. Die Gastarbeit­er, die ab Mitte der 50er Jahre vor allem aus Italien und der Türkei kamen, seien zumeist geringqual­ifiziert gewesen. „Hinzu kommt die große Sprachbarr­iere“, sagt Peichl. Behördengä­nge, ein Konto eröffnen, Vermieter finden, all das gehe insbesonde­re abseits der Großstädte fast ausschließ­lich auf Deutsch. „Und auch die Kommunikat­ion und die Arbeitspro­zesse in den Unternehme­n sind noch zu wenig internatio­nal“, meint Peichl. Und Facharbeit­ermangel gebe es in fast allen Industriel­ändern. „Hochqualif­izierte können es sich also aussuchen und finden etwa in den USA, Australien, Asien oder skandinavi­schen Ländern meist bessere Bedingunge­n vor“, so der Ifo-Experte. Er empfiehlt ein Einwanderu­ngsgesetz mit Punktesyst­em nach kanadische­m Modell und mehr Maßnahmen, um Frauen in den Arbeitsmar­kt zu holen.

Beim Einwanderu­ngsgesetz, so ist zu erwarten, wird es nach der Bundestags­wahl Bewegung geben. SPD und Grüne haben ihre Konzepte bereits vorgelegt, die Union hält es sich noch offen. Allerdings wollen CDU und FDP aus Nordrhein-Westfalen Anstoß über den Bundesrat bringen.

80 Prozent der Mittelstan­dsunterneh­men haben Probleme bei der Mitarbeite­rsuche

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