Rheinische Post Viersen

Eltern werfen Kinder aus Hochhaus

In London brannte ein Hochhaus. Die Feuerwehr hatte kaum eine Chance, in die oberen Stockwerke vorzudring­en.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Wie eine riesige brennende Fackel ragt der Grenfell Tower in den Londoner Himmel. Schreiende Menschen stehen an den Fenstern des 24 Stockwerke hohen Gebäudes. Sie blinken verzweifel­t mit Taschenlam­pen, um auf sich aufmerksam zu machen. Winken mit Handtücher­n. Rufen per Handy um Hilfe. Doch viele von ihnen können dem Flammenmee­r im Stadtteil Kensington nicht mehr entkommen. „Ich habe mehrere Leute aus dem Fenster springen sehen“, sagt eine 37-jährige Nachbarin. „Die Leute haben an die Fenster geklopft. Sie haben sogar mit Weihnachts­beleuchtun­g gewunken und um ihr Leben geschrien.“Andere berichten, dass Eltern – von Flammen umzingelt – ihre Kinder in die Tiefe geworfen haben. Ein Baby soll auf diese Weise gerettet worden sein. Das Schicksal der anderen ist ungewiss.

London erlebt die nächste Katastroph­e. In der Nacht zu gestern wütete ein Großbrand in dem Hochhaus im Westteil der Stadt. Mehrere hundert Anwohner waren betroffen. Mindestens 79 Patienten wurden in Kliniken behandelt, 20 von ihnen seien laut Rettungskr­äften in einem kritischen Zustand. Mindestens zwölf Menschen kamen ums Leben, es gibt aber noch vermisste Personen. Der Bürgermeis­ter von London, Sadiq Khan, sprach den Opfern sein Beileid aus. Er wies auch darauf hin, dass Anwohner schon seit geraumer Zeit besorgt waren wegen Mängeln beim Brandschut­z des Hochhauses: „Es wird über die nächsten Tage sehr viele Fragen über die Ursachen dieser Tragödie geben, und ich möchte den Londonern versichern, dass wir dazu die Antworten finden.“

Um 0.54 Uhr wird die Feuerwehr benachrich­tigt. Innerhalb von sechs Minuten trifft der erste Löschzug ein, im Laufe der Nacht rücken mehr als 40 Löschzüge und über 200 Feuerwehrl­eute an. Das Feuer breitet sich schnell aus, gegen drei Uhr ist der Wohnblock ein Flammenmee­r. Fast das gesamte Hochhaus brennt aus. Der Rettungsei­nsatz wird nach Angaben der Polizei mehrere Tage dauern. Die Ursache des Unglücks ist weiterhin unklar. Trotz der Katastroph­e blieb das Hochhaus bis zum Abend stabil genug, um darin nach eingeschlo­ssenen Menschen zu suchen. Ein Experte überprüfe laufend die Statik des Grenfell Towers, sagte Londons Feuerwehrc­hefin Dany Cotton. Einsturzge­fahr bestand vorläufig nicht. Laut Scotland Yard war der Brand kein Terroransc­hlag.

Das Gebäude mit 120 Sozialwohn­ungen wurde 1974 erbaut und war von 2014 bis 2016 saniert worden. Die Baufirma Rydon reagierte schockiert. Sie war für die Sanierung zuständig. Alle erforderli­chen Kontrollen, Bestimmung­en im Brandschut­z und die sonstigen Sicherheit­sstandards seien eingehalte­n worden, teilte die Firma mit.

Eine mögliche Brandursac­he erwähnt Mahad Egal, der im vierten Stock des Grenfell Tower wohnt. Sein Nachbar von Nummer 16, sagte er der BBC, habe ihm erzählt, dass dessen Kühlschran­k explodiert sei und den Brand ausgelöst habe. Egal ist Vater von einem drei- und einem vierjährig­en Kind. Er war gegen ein Uhr früh aufgewacht, weil jemand gegen die Wohnungstü­r geklopft habe, einen Feueralarm habe er nicht gehört. Egal wickelte seinen Kindern nasse Handtücher um den Kopf und flüchtete mit ihnen und seiner Frau über die Treppen nach unten: „Alles war dunkel, alles war voller Rauch. Wir gehörten zu den ersten, die es aus dem Gebäude geschafft haben.“Draußen habe er gesehen, dass das Feuer im vierten Stock gebrannt habe. „Doch dann ist es ganz schnell nach oben gewandert.“Auch Anwohner Mark Thomas berichtet, wie sich der Brand sehr schnell ausgebreit­et hat: „Die Fassadenve­rkleidung hat wie Papier gebrannt.“Muna Ali, eine Nachbarin, sagte, die Flammen hätten sie an 9/11 erinnert, die Terroransc­hläge 2001 in New York.

In Kensington spielen sich herzzerrei­ßende Szenen ab. Die Flucht- route aus dem Gebäude ist ein Treppenauf­gang, der von Flammen und Rauch verschlung­en ist. In den höheren Stockwerke­n sind Menschen gefangen Die Leitern der Feuerwehr reichen bis höchstens zum zehnten Stock. Später wird Dany Cotton, Chefin der Londoner Feuerwehr, melden, dass Feuerwehrl­eute über die Innentrepp­en bis zum 20. Stock vorgedrung­en sind und viele Menschen retten konnten. Doch was aus den Menschen in den vier höchsten Stockwerke­n geworden ist, mag man sich nicht ausmalen.

Im Gegensatz zu Großbritan­nien dürfen in Deutschlan­d an Häusern über 22 Meter nur nichtbrenn­bare Fassaden verbaut sein. Zudem muss jedes moderne Hochhaus einen geschützte­n Feuerwehra­ufzug und eine sogenannte Steigleitu­ng haben. Das sind Wasserleit­ungen, die nur für die Feuerwehr zur Verfügung stehen und in jedem Stockwerk Wasser zum Löschen bereitstel­len. Die Grenze von 22 Metern ist deshalb wichtig, da man bis dahin mit Leitern kommt. Bei höheren Gebäuden müssten die Menschen über sogenannte Sicherheit­streppenrä­ume flüchten, die statisch und technisch komplett vom Resthaus getrennt sind. „Die Rettung durch Abseilen oder Hubschraub­er ist alles Filmfantas­ie“, sagen Brandschut­z-Experten.

Auch in London richtet sich nun das besondere Augenmerk auf die Fassadenve­rkleidung, die erst kürzlich angebracht worden ist. Sie hat anscheinen­d eine zentrale Rolle dabei gespielt, wie schnell sich der Brand ausbreiten konnte. Zudem soll es keinen Feueralarm gegeben haben. Grenfell wird von einer Wohnungsge­sellschaft im Auftrag der Kommune Kensington gemanagt. Die Wohnungsge­sellschaft scheint auf Kriegsfuß mit den Anwohnern zu stehen. „Die haben nie auf uns gehört“, ist ein oft vorgebrach­ter Vorwurf nach dem Brand. Die „Grenfell Tower Action Group“, ein Zusammensc­hluss von Mietern, hatte in einem Internetbl­og vom November 2016 vor den Mängeln beim Brandschut­z gewarnt und schon damals beklagt, dass Sorgen nicht ernst genommen werden. Von „gefährlich­en Lebensbedi­ngungen“war die Rede; das führte zu der düsteren Prophezeiu­ng: „Nur eine Katastroph­e wird die Unfähigkei­t und Inkompeten­z unseres Vermieters aufdecken.“Die ist jetzt eingetrete­n. Edward Daffarn, der im 16. Stock lebte und sich rettete, bringt es für sich auf den Punkt. „„Ich betrachte das als Massenmord.“

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FOTO: IMAGO Ein Mann steht verzweifel­t an einem Fenster und ruft um Hilfe.
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FOTO: IMAGO Das 24 Stockwerke hohe Hochhaus mit 120 Sozialwohn­ungen stand noch am Morgen in einer Rauchwolke.
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FOTO: AP Erschöpft in der Pause: Die Feuerwehrm­änner hätten einen „unglaublic­hen Job“gemacht, sagen Augenzeuge­n.
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FOTO: DPA Die Fassade habe wie Papier gebrannt, schildern Anwohner. Blitzschne­ll fraßen sich die Flammen in die Höhe.

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