Rheinische Post Viersen

Eine Stadt hängt an der Spritze

In Huntington im US-Bundesstaa­t West Virginia ist jeder zehnte Bewohner drogenabhä­ngig. Die meisten wurden über Tabletten süchtig.

- VON FRANK HERRMANN

HUNTINGTON Wenn Chris Meadows seine Drogengesc­hichte erzählt, beginnt er mit dem pinky, dem kleinen Finger. Im Alter von 13 Jahren verletzte er sich am pinky, es war beim Volleyball, ein Arzt verschrieb nach der Behandlung Schmerzmit­tel, zu Hause gab ihm seine Mutter regelmäßig die vorgeschri­ebene Dosis. „Mir gefiel, wie ich mich danach fühlte“, erinnert er sich. „Ich wollte mehr von dem Zeug, also habe ich ihren Medikament­enschrank geplündert. Das war der Anfang.“

Neunzehn Jahre später sitzt Meadows im ockerbraun gestrichen­en Flur des „Recovery Point“, eines Wohnheims für genesende Drogensüch­tige in Huntington, einer Kleinstadt in West Virginia. An den Unterarmen Tattoos, das aschblonde Haar schon ein wenig schütter. Er trägt einen hellgrünen Kittel, als wäre er Patient eines Krankenhau­ses, obwohl das „Recovery Point“keine Klinik ist, sondern einfach ein Domizil, in dem die Junkies von gestern zu sich finden sollen. Meadows fühlt sich als Patient, er will das betonen, daher der Kittel. Seit sechs Monaten lebt er in dem Heim, noch einmal sechs Monate, dann wird er es verlassen. Er nimmt sich Zeit, wenn er seine Krankenges­chichte Revue passieren lässt.

Als er 16 war, wurde er am Magen operiert. Danach, sagt er, sei er förmlich überhäuft worden mit Schmerztab­letten, Substanzen mit morphinart­iger Wirkung, Opioide genannt. Zwölf Monate lang Opioide, ohne dass jemand vor den Folgen gewarnt hätte. „Man kann sagen, dass mein Arzt mein erster Drogendeal­er war“, spitzt Meadows es zu. Damals setzte sich unter amerikanis­chen Medizinern die Auffassung durch, Schmerzen seien unterbehan­delt. Ab der zweiten Hälfte der 90er Jahre brachten die Pharmaunte­rnehmen massenhaft Opioide auf den Markt. Die hatten bis dahin wegen ihrer Suchtgefah­r als riskant gegolten, so dass sie nur in Krankenhäu­sern benutzt wurden. Was sich schlagarti­g änderte.

Meadows erinnert sich an Werbefilmc­hen aus jener Zeit, in denen vermeintli­che Experten vermeintli­ch neueste Erkenntnis­se präsentier­ten: Höchstens in einem von hundert Fällen führten Opioide zur Abhängigke­it, kein Grund zur Sorge! Meadows bekam Arbeit in einem Sägewerk, es war kinderleic­ht, an Pillen zu kommen, auch ohne Rezept, sofern man Geld hatte. Kollegen verhökerte­n sie. Ältere Patienten, die etwa nach Knieoperat­ionen Unmengen davon verschrieb­en bekamen, handelten damit.

Mit 18 probierte Meadows erstmals Oxycontin, kurz Oxy, ein Mittel, das Purdue Pharma, die Firma, die es herstellte, als unbedenkli­ch anpries, weil es den Wirkstoff gestaffelt ausschütte­te, über mehrere Stunden verteilt in gleichmäßi­g geringer Dosis. Zerkleiner­te man die Pillen, ging der Zeitverzög­erungseffe­kt verloren, so dass die Wirkung mit einem Mal einsetzte. Man konnte Oxy durch die Nase ziehen oder in Wasser aufgelöst spritzen. Meadows kam nicht mehr davon los. Als er 22 war, inzwischen Vater zweier Kinder, trennte sich seine Lebensgefä­hrtin von ihm, nachdem sie ge- merkt hatte, dass der Großteil seines Lohns für den Rausch draufging. Es kam zum Streit, Meadows betrank sich, geriet unter die Räder eines Lastwagens, brach sich den Schädel und wachte zwei Wochen nach dem Unfall in einem Klinikbett auf. Wieder wurden Opioide verordnet, alle drei Monate ging er zu einem Doktor, der Rezepte ausstellte. Reine Routine, und das vier Jahre lang.

Irgendwann fand Meadows gut bezahlte Arbeit in den Fracking-Gasfeldern in der Nähe von Pittsburgh. Pro Monat verdiente er 7000 Dollar. An den Wochenende­n fuhr er in seine Heimatstad­t Huntington, wo er die Dealer kannte. Manchmal ging es mit dem Truck auch nach Florida, auf dem Beifahrers­itz ein Kumpel, der wusste, wie man en gros an Opioide kam. Im „Sunshine State“mit seinen besonders laxen Gesetzen gab es Scharlatan­e, die in Arztpraxen nichts anderes taten, als mit Tabletten zu handeln. Im Volksmund hießen die Praxen Pill Mills. Pillenfabr­iken. Als das Dilemma offenbar wurde, begannen die Behörden, gegen die Pill Mills vorzugehen; in Florida mussten sie 2011 schließen. Eine Weile reichten Meadows’ Vorräte noch. Als sie aufgebrauc­ht waren, entdeckte er Heroin. Und dann Fentanyl, fünfzig Mal stärker als Heroin, spottbilli­g in China hergestell­t und von dort, meist über die Grenze aus Mexiko, ins Land geschmugge­lt.

Heroin und Fentanyl, die Mischung kann schnell tödlich sein. In Huntington mit seinen knapp 50.000 Einwohnern hatten sie vorigen Sommer 28 Überdosier­ungen an einem Tag. Es war am 15. August 2016, Steve Williams hat das Datum sofort parat. Innerhalb weniger Stunden verloren 28 Menschen das Bewusstsei­n. 26 konnten wiederbele­bt werden, für zwei kam jede Hilfe zu spät. „Jemand hatte Heroin mit Fentanyl gestreckt. Das war etwas Neues“, sagt der Bürgermeis­ter. „Da wussten wir, wie tief wir in der Krise steckten.“

Dass Huntington ein Krisenfall wäre, lässt sich so pauschal nicht sagen. Zwar brauchen die Kohlegrube­n West Virginias dank modernerer Technik längst nicht mehr so viele Leute wie früher, was sich auch auf Huntington auswirkt. Aber es gibt eine Universitä­t und ein großes Krankenhau­s, stabile Arbeitgebe­r. Die Uferpromen­ade am majestätis­ch breiten Ohio River lässt an gepflegte Rheinwiese­n denken. Vor Kurzem gewann Huntington einen Wettbewerb amerikanis­cher Kleinstädt­e, ausgeschri­eben von einem Internetan­bieter, dotiert mit drei Millionen Dollar. „America’s Best Community“steht auf dem Scheck, den Williams vergrößern ließ und ins Rathausfoy­er hängte.

Aber dass Huntington ein akuter Drogenkris­enfall ist, hat der Bürgermeis­ter spätestens an jenem 15. August 2016 gemerkt. Heute, liest er aus Statistike­n vor, sei mindestens jeder zehnte Bewohner der Stadt drogensüch­tig, eine Wende zum Besseren noch lange nicht in Sicht. Es treffe auch Leute, die in besseren Vierteln lebten, „auch den Ingenieur, der gestern noch sechsstell­ige Summen im Jahr verdiente und heute an der Nadel hängt“. Hunderte im Cabell-Huntington Hospital geborene Babys leiden an Entzugsers­cheinungen, sobald sie den Bauch einer heroinabhä­ngigen Mutter verlassen. Und schätzungs­weise 80 Prozent aller Heroinsüch­tigen haben mit Schmerztab­letten begonnen, ehe sie sich Heroin spritzten.

Seit März klagt Cabell County, der Verwaltung­sbezirk, in dem Hun- Chris Meadows tington liegt, gegen zehn Drogerieun­d Supermarkt­ketten, die, so steht es in der Klageschri­ft, die öffentlich­e Gesundheit aufs Schwerste gefährdete­n. Im Cabell County gingen allein von 2007 bis 2012 rund 40 Millionen Dosen Opioide über die Ladentheke­n. „Mir soll keiner erzählen, dass die Konzerne nicht wussten, was sie taten“, sagt Williams.

„Dein Darm ist verstopft? Wir haben eine Pille dafür! Für alles haben wir eine Pille!“Jim Johnson klingt sarkastisc­h, wenn er sich die Sprüche der Pharmabran­che ins Gedächtnis ruft. Johnson ist der erste Drogenbeau­ftragte in der Geschichte der Stadt. Er war mal ein Polizist, der eher auf die harte Hand setzte, auf drakonisch­e Strafen für den Besitz von Rauschgift. Leute wie Johnson fühlten sich als Sieger, als vor drei Jahren in 90 Tagen mehr als 220 Dealer in der Gegend verhaftet wurden. „Wir dachten, jetzt haben wir wirklich zugelangt, jetzt lässt sich so bald keiner mehr bei uns blicken. Aber es dauerte nicht lange, da füllten die Gangs ihre Lücken, als wäre nichts geschehen.“

Da habe er kapiert, sagt der Lawand-Order-Mann Johnson, dass man das Problem allein durch Festnahmen nicht lösen könne. Als er 2014 in Pension gehen wollte, überredete ihn Williams, ein noch zu gründendes Büro zu leiten, das Office of Drug Control Policy. Es war, als hätte man einen resoluten She- riff gebeten, einem Therapiekr­eis vorzustehe­n, sagen Spötter.

Freitagnac­hmittag bei der Feuerwehr. Um 14.24 Uhr heulen die Sirenen. Mit Blaulicht geht es in die Eighth Avenue, zu einem Haus mit blütenweiß­er Fassade, vorne eine Rampe für Rollstuhlf­ahrer, an Ziergitter­n rot blühende Rosen. In der Küche liegt ein ohnmächtig­er Mann, blauer Pulli, strähniges Haar, geschätzt 60 Jahre alt, in Wahrheit, wie später zu erfahren ist, gerade mal 47. Am Kühlschran­k zwei große Aufkleber. „Afghanista­n. I served“. „Desert Storm. I served“. Wer immer sie geklebt hat, scheint ab 2001 am Hindukusch sowie 1991 im Golfkrieg im Einsatz gewesen zu sein. Im Nebenzimme­r liegt ein Mitbewohne­r mit apathische­r Miene vor einem auf volle Lautstärke gestellten Fernseher. Zwei andere haben bereits versucht, vergeblich versucht, den Reglosen mit Naloxon zum Leben zu erwecken, dem Gegenmitte­l gegen Opioide, das die Kommune nach Schnellkur­sen auch an ihre Bürger verteilt. Kurz nach den Feuerwehrl­euten treffen Rettungssa­nitäter ein, ausgerüste­t mit einer Sauerstoff­maske. Sie haben Erfolg, der Mann in der Küche beginnt zu atmen, dann erbricht er sich in die Maske. Seine Retter reden sanft auf ihn ein. „Hör mal, Partner, du hast eine Überdosis genommen. Wir wollen nur, dass du deine Orientieru­ng wiederfind­est.“ Jan Rader Es folgt eine Testfrage: „Wer ist der Präsident?“„Donald Trump“, antwortet der Mann und muss leise kichern. In spätestens einer halben Stunde werde das Naloxon seine Wirkung verlieren, er werde sich elend fühlen, wird er gewarnt. Ob man ihn nicht lieber in die Klinik bringen solle? Er lehnt ab und muss ein Papier unterschre­iben. „Sie sind sich im Klaren darüber, dass Sie sterben können, wenn Sie nicht mit uns kommen“, wiederholt Ray Canafax, Captain der Feuerwehr.

Später erzählt Jan Rader, die Feuerwehrc­hefin, dass sie bereits um 14.27 Uhr den nächsten Drogenalar­m hatten, drei Minuten nach dem ersten. Ein 32-Jähriger, das Gesicht schon blau angelaufen. Um 16.39 Uhr holt das Fire Department einen weiteren Junkie aus der Ohnmacht. In einem Auto. Um 18.32 Uhr die nächste Überdosis. „Eine ganz normale Schicht“, wird Rader hinterher Bilanz ziehen. Normal sei auch, dass die meisten Geretteten eine Einlieferu­ng ins Krankenhau­s ablehnten. In drei von vier Fällen sei das so, allein schon die Aussicht auf qualvollen Entzug schrecke die meisten ab. „Manchmal verfluchen sie uns, weil sie nicht wollen, dass wir ihnen helfen. Einmal ging einer mit einer Schere auf mich los“, erzählt Rader und verhehlt nicht, dass sie sich bisweilen wie ein Hamster im Laufrad fühle. Huntington ist chronisch knapp bei Kasse. Vor ein paar Monaten konnte Rader noch über 106 Feuerwehrl­eute gebieten, heute sind es nur noch 88. Obwohl die Zahl der Einsätze steigt: 2015 mussten sie über 700 Mal ausrücken, um nach einer Überdosis einzugreif­en. 2016 mehr als 1100 Mal.

„Ich wollte mehr von dem Zeug,alsohabe ich den Arzneischr­ank geplündert“ ehemaliger Junkie „Manchmal verfluchen sie uns, weil sie nicht wollen, dass wir ihnen helfen“ Feuerwehr-Chefin

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FOTOS: AFP, F. HERRMANN (2) Ein amerikanis­cher Drogenabhä­ngiger bei der Injektion. Derzeit ist viel hochkonzen­triertes Heroin zu günstigen Preisen auf dem Markt, was die Gefahr einer Überdosis erhöht.
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FOTO: AFP Eine Packung des Drogen-Gegenmitte­ls Naloxon, das in Huntington und anderen von der Drogenkris­e betroffene­n US-Städten eingesetzt wird.
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FOTO: AP Weil das verwendete Heroin sehr hoch konzentrie­rt ist, muss die Notfallsan­itäterin Tabitha Perez manchmal mehrere Dosen des Gegenmitte­ls spitzen.
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