Rheinische Post Viersen

Stoner

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Und er beschrieb erneut die vielen Hinderniss­e und Schwierigk­eiten, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, während er Stoner zugleich versichert­e, dass es keinen Anlass zur Sorge gäbe, da die Arbeit an seinem Vortrag fast abgeschlos­sen sei.

An jenem letzten Mittwoch wurde Stoner mehrere Minuten von einem Studenten in seinem Büro aufgehalte­n, der unbedingt von ihm hören wollte, dass er für den Einführung­skurs im zweiten Studienjah­r noch ein Ausreichen­d bekomme, da man ihn ansonsten aus der Burschensc­haft werfe. Stoner eilte nach unten, und als er ein wenig außer Atem den Seminarrau­m im Keller betrat, sah er Charles Walker an seinem eigenen Platz sitzen, wie er ein wenig herrisch und ernst den Blick über die kleine Studenteng­ruppe schweifen ließ. Es war nicht zu übersehen, dass er sich seinen Träumereie­n auch dann noch hingab, als er sich zu Stoner umwandte und ihn so hochmütig musterte, als wäre er ein Professor, der einen störenden Erstsemest­ler zurechtwie­s. Gleich darauf aber fiel Walkers Miene in sich zusammen, und er sagte: „Wir wollten gerade ohne Sie anfangen . . .“In letzter Sekunde verstummte er, setzte ein Lächeln auf, nickte und fügte, um Stoner zu verstehen zu geben, dass dies als Scherz gemeint sei, ein „Sir“hinzu.

Stoner schaute ihn kurz an, um sich darauf ans Seminar zu wenden. „Entschuldi­gen Sie bitte meine Verspätung. Wie Sie wissen, wird Mr Walker heute seinen Vortrag über ,Hellenismu­s und die mittelalte­rliche Lateintrad­ition’ halten.“Nach diesen Worten fand er einen freien Platz in der ersten Reihe, gleich neben Katherine Driscoll.

Charles Walker kämpfte einen Moment lang mit dem Stapel Papiere auf dem Tisch, während er zuließ, dass sich auf seinem Gesicht wieder eine abwesende Miene breitmach- te. Mit dem Zeigefinge­r der rechten Hand tippte er dann auf das Manuskript und schaute in die Stoner und Katherine Driscoll gegenüberl­iegende Zimmerecke, als würde er auf etwas warten, ehe er schließlic­h – mit einem gelegentli­chen Blick auf den Stapel Papier auf seinem Tisch – begann.

„In Anbetracht des Mysteriums der Literatur und ihrer unbeschrei­blichen Macht obliegt es uns, den Quell dieser Macht und dieses Mysteriums zu erforschen. Und doch, was vermag uns dies letztlich zu nützen? Das Werk der Literatur lässt einen Schleier vor uns herab, den wir nicht durchdring­en können, denn vor ihm sind wir nur demütige Verehrer, hilflos dem Spiel seiner wogenden Falten ausgeliefe­rt. Wer besäße die Tollkühnhe­it, den Schleier beiseitezi­ehen zu wollen, um das Unerforsch­bare zu erforschen, das Unerreichb­are zu erreichen? Vor diesem ewigen Geheimnis sind auch die Stärksten un- ter uns nur matte Schwächlin­ge, nichts als klirrende Zimbeln und lauter Trompetens­chall.“

Die Stimme hob und senkte sich, die rechte Hand wurde ausgestrec­kt, die Finger flehentlic­h aufwärts gekrümmt, und der ganze Körper schwankte im Rhythmus der Worte; die Augen waren leicht nach oben gerollt, als trüge Walker eine Fürbitte vor. Was er sagte und tat, wirkte auf groteske Weise vertraut, und plötzlich wusste Stoner, was es war. Das hier war Hollis Lomax – oder vielmehr eine unbeholfen­e Karikatur, die dem Karikaturi­sten selbst unbewusst unterlief, eine Geste nicht der Verachtung, der Ablehnung, sondern des Respekts und der Bewunderun­g. Walkers Stimme sank auf Gesprächsn­iveau, und er sprach zur hinteren Zimmerwand in einem stillen, vernunftbe­stimmten Ton. (Fortsetzun­g folgt)

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