Hand in Hand gegen Atomkraft
Im Grenzgebiet von Belgien, Deutschland und den Niederlanden geben sich rund 50.000 Menschen die Hand. Ihre Forderung: das Atomkraftwerk Tihange abschalten. Die Organisatoren sehen die Aktion als starkes Signal.
AACHEN/LÜTTICH/TIHANGE/VISÉ Auf dem Aachener Markt ist Gelb die dominierende Farbe. „Stop Tihange“-Schirme und -Bänder überall. Auch Oberbürgermeister Marcel Philipp (CDU) hält eine gelbe Fahne hoch, bevor er dann um 14.45 Uhr den Mann neben sich an der Hand nimmt. Heerlens Bürgermeister Ralf Krewinkel ist nach Aachen gekommen, um gegen den Betrieb des belgischen Meilers Tihange 2 zu demonstrieren und um zu zeigen, dass die Sorge um diesen und den Meiler in Doel die Menschen von Aachen und Heerlen, aber auch bis nach Belgien vereint. 90 Kilometer lang ist die Strecke von Aachen über Maastricht und Lüttich nach Tihange: 60.000 Menschen hätte man benötigt, 50.000 sind laut Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie gekommen.
Im belgischen Visé, rund 30 Kilometer Luftlinie von Aachen entfernt, müssen die Menschen an der einen oder anderen Stellen kreativ sein, um die Kette zu schließen. Im Streckenabschnitt 42 endet die Kette bei Isabell Vitt. Trotz Bändern, Pappfiguren und ausgestreckten Armen liegen zwischen der Frau aus Euskirchen und ihrem Gegenpart fünf Meter. Rochus Kaluza, der an der anderen Seite der unterbrochenen Kette steht, überlegt, ob er seinen Gürtel zweckentfremden soll. Jeder Meter zählt. Doch dann klappt es. Endlich. Kettenschluss. Die Mehrheit der Menschenketten-Teilnehmer sind Deutsche – viele aus der Grenzregion um Aachen, Düren und Heinsberg. Sogar aus Hessen, Baden-Württemberg und Bayern sind Atomkraftgegner angereist.
Der Grenzübergang von Aachen nach Vaals ist ein symbolträchtiger Ort für die Menschenkette. Denn die Angst vor dem Atomreaktor vereint viele Menschen – über Grenzen hinweg. „Hier sind nicht nur Aktivisten, die Sorge vor Tihange 2 beschäftigt große Teile der Bevölkerung“, sagt die Aachener EU-Abgeordnete Sabine Verheyen, die sich mitten auf die Grenze stellt. Ja, der Meiler sei nur 60 Kilometer Luftlinie vom Aachener Stadtgebiet entfernt. Im Falle eines GAU könne das Gebiet unbewohnbar werden. Das hatte Professor Wolfgang Renneberg vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften an der Universität für Bodenkultur in einer Studie für die Städteregion Aachen erörtert. Auch er ist zur Menschenkette gekommen. „In Deutschland würde so ein Atommeiler nicht mehr laufen.“
Das erhofft sich auch Städteregionsrat Helmut Etschenberg (CDU), der immer wieder betont, dass er sich von der Bundesregierung alleingelassen fühlt. Die Städteregion klagt gegen den Betrieb, während die Bundesregierung den Transport von Brennelementen genehmigt. Das verstehen die Menschen an der Strecke nicht. „Da fühlt man sich doch verarscht“, sagt Elisabeth Rommbach aus Mönchengladbach, die mit Freunden aus Aachen demonstriert.
Alexander Decker ist an diesem Tag nach Lüttich gefahren. Wo sonst Touristen flanieren und Einheimische den Radweg entlang der Maas nutzen, befindet sich jetzt Kilometer 30 der Kette. Eine junge Helferin weist den langsam, aber stetig eintreffenden Demonstranten den Weg. Gegen 14.30 Uhr haben auch Decker und seine Begleiter ihren Platz in der Kette gefunden, Protestutensilien und gelb-schwarze Bänder zur Kettenverlängerung inklusive. „Die ersetzen jeweils mindestens einen, der nicht gekommen ist“, scherzt Decker.
Auch Angelika Hartzheim aus Köln protestiert mit. Sie erinnert sich genau an die Anti-AKW-Proteste der frühen 80er und an den Unfall von Tschernobyl. Die Diskussionen um die belgischen Reaktoren mache ihr Angst: „Tschernobyl war damals schon sehr nah, die Auswirkungen haben den Alltag beeinflusst. Von Tihange und Doel geht aber eine gefühlte Bedrohung aus, die viel größer ist als damals.“
Rund 50 Kilometer Maas-aufwärts können die Streckenposten pünktlich ausrufen: „La chaîne existe!“In Huy, unweit des Kraftwerks von Tihange, steht die Kette. Beim Betreiber Engie-Electrabel gibt man sich gelassen. Der Leiter des Kraftwerks hatte die Organisatoren der Menschenkette sogar für gestern zum Gespräch eingeladen. Die sagten aber ab, schließlich müsse man in der Kette stehen. Engie-Electrabel will das Treffen gern nachholen.