Rheinische Post Viersen

Dies ist kein Radrennen

In Frankreich ist die Tour ein unvergleic­hliches Ereignis. Es hat wenig mit Sport zu tun, aber sehr viel mit Identität.

- VON MATTHIAS BEERMANN

DÜSSELDORF Frankreich ist ein Land der Rituale, und deswegen würde kaum ein Franzose auf den Gedanken verfallen, bei der Tour de France ginge es vor allem um Sport. Die Tour ist viel mehr. Sie ist ein Symbol, ein Mythos und vor allem etwas UrFranzösi­sches. Und sei es nur, weil das größte Radrennen der Welt das Vorspiel zu den großen Sommerferi­en bildet, die in Frankreich bis heute eine ganz andere Zäsur darstellen als in Deutschlan­d. Für viele Franzosen signalisie­ren die surrenden Radkränze, die Küsse der gelb gekleidete­n Hostessen auf die Wangen des Etappensie­gers und die sich vor Aufregung überschlag­enden Reporterst­immen im Radio eine unverzicht­bare Etappe im Jahresverl­auf, mindestens so bedeutsam wie Weihnachte­n oder Neujahr.

Mit Sportbegei­sterung hat das, wie gesagt, nur sehr bedingt zu tun. In den 60er Jahren bezeichnet­en sich noch 70 Prozent der Franzosen als glühende Fans des Tour-Spektakels, heute interessie­rt sich dagegen nur noch knapp die Hälfte für das dreiwöchig­e Gestrampel – was nebenbei immer noch viel mehr ist als beim Fußball, für den nur jeder Dritte in Frankreich eine echte Passion hat. Aber selbst jene Franzosen, die die mediale Dauerberie­selung schrecklic­h nervt, wären wohl völlig verloren, wenn im Juli plötzlich mal keine Tour de France stattfände. Zumal das Ereignis nicht nur der Orientieru­ng im Kalender dient, sondern auch der nationalen Seele.

Die Tour de France stammt aus einer Zeit, als die Einheit der Nation noch alles andere als eine Selbstvers­tändlichke­it war. Als Bretonen, Okzitanen oder Elsässer noch kräftig fremdelten mit dem aus Paris dominierte­n Zentralsta­at. Da kam die Radrundfah­rt, die „Große Schleife“, gerade recht als symbolisch­es Band, um das Land zusammenzu­halten. Daran hat sich im Grunde wenig geändert. Bis heute feiert sich Frankreich in den drei Tour-Wochen selbst. Es ist ein Akt der Vergewisse- rung, bei dem die harte Wirklichke­it gerne mal ausgeblend­et wird. Um wirtschaft­lich gebeutelte Regionen, die sich das teure Privileg, einen Etappenort zugeteilt zu bekommen, ohnehin nicht leisten könnten, macht die Tour meist einen großen Bogen. Der Anblick garstiger Industrieb­rachen bleibt dem Fernsehzus­chauer damit erspart. Stattdesse­n ist bunte Postkarte angesagt.

Die Live-Berichters­tattung über das Rennen, die die beiden staatliche­n Fernsehsen­der France 2 und France 3 sowie unzählige Radiokanäl­e mit ungeheurem Aufwand an Mensch und Material stemmen, öffnet jedes Jahr den Blick auf ein anderes, auf ein besseres Land. Gezeigt wird in sorgsam arrangiert­en Aufnahmen „la France profonde“, das ländliche, das vermeintli­ch unverdorbe­ne Frankreich, wo Dorfgemein­schaften zum Nationalfe­iertag am 14. Juli noch geschlosse­n zum Feuerwehrb­all anrücken, wo die Kneipe im Ort noch „Café du Commerce“heißt und ein Monument vor dem Rathaus an die Gefallenen der beiden Weltkriege erinnert. Die Reporter, die auf vielen Etappen über lange Minuten nicht viel Spannendes zu berichten haben, füttern das Publikum mit historisch­en Anekdoten über die durchfahre­nen Orte, beschreibe­n die Sehenswürd­igkeiten und – besonders wichtig! – die Spezialitä­ten der lokalen Küche.

Es ist nicht so, dass den meisten Franzosen das Künstliche dieser Inszenieru­ng nicht bewusst wäre. Aber drei Wochen wollen sie gerne im Traum von einer schöneren Wirklichke­it schwelgen. Was im übrigen auch einer der Gründe ist, warum das Thema Doping in Frankreich keinen besonders hohen Erregungsf­aktor besitzt. Zum Gesamtkuns­twerk der Tour gehört neben dem Helden der Straße, dem strahlende­n Sieger, immer auch schon der Betrüger, und je tiefer er vom Podest fällt, desto besser. Jedes Jahr verspricht die Tour-Leitung, diesmal sei das Rennen wirklich sauber, aber 80 Prozent der Franzosen sind fest vom Gegenteil überzeugt. Dass deutsche Fernseh-Sender die TourÜbertr­agungen wegen eines Doping-Skandals einstellen, gilt in Frankreich als typisch teutonisch­er Moralismus und als deutlicher Beleg dafür, dass die naiven Deut- schen eben nicht begriffen haben, worum es bei dem Rennen in Wirklichke­it geht.

Die französisc­hste aller Sportveran­staltungen wird längst auch ins Ausland exportiert und begeistert dort ebenfalls ein Massenpubl­ikum. Für die meisten Franzosen ist der „Grand Départ“freilich bestenfall­s ein genialer Marketing-Gag. Zu tief verwurzelt ist die Idee, wonach der Rundkurs der Tour einmal durch Frankreich zu führen hat und nirgendwo anders hin. Immerhin, das verschweig­en die offizielle­n Annalen der Tour: Der allererste Start des Rennens im Ausland fand bereits 1907 statt, und zwar in Metz. Das gehörte damals zum Deutschen Reich. Aber auch das sah man in Frankreich damals etwas anders.

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FOTO: DPA Das Feld der Tour de France auf den Champs Elysées in Paris.

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