Rheinische Post Viersen

Wiedersehe­n nach 1162 Tagen

Esmail Manla Ali ist vor gut drei Jahren vor dem Krieg in Syrien nach Deutschlan­d geflohen. Seiner Familie hat er versproche­n, sie nachzuhole­n.

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Flughafen Düsseldorf, 30. Juni 2017 05.30 Uhr. Der Himmel ist in ein mattes Blau getaucht. Von Morgenröte bisher keine Spur. Nur wenige Menschen schleichen durch die Ankunftsha­lle des Düsseldorf­er Flughafens. Die Mitarbeite­r in den Geschäften sind selbst erst seit einer knappen Stunde bei der Arbeit. Aus der Bäckerei vor „Ankunft 6“weht einem der Duft von frisch gebackenen Brötchen entgegen. Esmail Manla Ali (34) bestellt einen Kaffee. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Heute will er seine Familie abholen. 1162 Tage war er von ihr getrennt – seit seiner Flucht aus Syrien am 24. April 2014.

Um 06.10 Uhr soll die Maschine landen. Flugnummer ST 3049, Germania, Beirut-Düsseldorf. Esmail trägt einen schwarzen Anzug. Dazu ein weißes Hemd mit einer fein schwarz-weiß gepunktete­n Krawatte. Schwarze Lackschuhe. In der Hand hält er einen Strauß weiße Pfingstros­en. Esmail legt die Hand auf seinen Brustkorb und ahmt seinen Puls nach. Er liegt weit über 70 Schlägen pro Minute.

Esmail zückt sein Smartphone. Die Maschine hat Verspätung. 06.38 Uhr steht jetzt auch auf der Anzeigetaf­el. „Bei mehr als drei Jahren macht eine halbe Stunde auch nichts mehr aus“, sagt Esmail. Er irrt. Sein Körper platzt fast vor Aufregung.

Über die App „Flightrada­r24“verfolgt Esmail den Flug aus Beirut. 06.30 Uhr, die Maschine ist noch über Tschechien, erst in wenigen Minuten wird sie den deutschen Luftraum erreichen. 06.38 Uhr wird der Pilot also nicht einhalten können. Die Wartehalle füllt sich. Ein Flieger aus Ankara ist gelandet. Esmail mustert die Reisenden. Natürlich ist seine Familie nicht darunter, doch sein suchender Blick verrät, dass er es sich wünscht. „Flightrada­r“verortet Flug ST 3049 jetzt kurz vor Coburg, Bayern. Leben in Syrien und Flucht Esmail kommt 2003 mit 21 Jahren nach Damaskus. Aus seinem Heimatdorf Maskanah am Assadsee im Norden des Landes kennt er nur Felder und Bauernhöfe. Eine große Wohnung kann er sich in der 1,7Millionen-Metropole nicht leisten, doch für zwei kleine Zimmer reicht es. Esmail beginnt eine Ausbildung zum OP-Assistente­n und studiert parallel am Wochenende an der Universitä­t Englisch.

Seine Frau Safaa Mahmoud lernt Esmail 2009 an der Universitä­t kennen. Er arbeitet bereits in einem Krankenhau­s, sie studiert Englisch wie er. Am 5. Juli 2010 heiraten sie. Im Sommer 2011 wird Tochter Farah geboren, Sohn Ahmed im Oktober 2013. Die Familie zieht zurück nach Maskanah in das Haus von Esmails Vater. Es ist nur eine kurze Phase des Glücks.

Fast zur selben Zeit vertreiben Kämpfer der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) die Freie Syrische Armee aus der Großstadt Rakka gut 100 Kilometer östlich von Maskanah. In den darauffolg­enden Monaten überfällt der IS weite Teile Nordsyrien­s – darunter auch Maskanah.

Die Miliz rekrutiert Esmail unter Todesandro­hung, er soll für sie ein provisoris­ch eingericht­etes Krankenhau­s verwalten und sich um verletzte IS-Kämpfer kümmern. Esmail hilft, um seine Familie zu schützen.

Eines Tages zerren die Dschihadis­ten einen Mann ins Krankenhau­s. Er blutet stark am Unterarm. Die Terroriste­n haben ihm kurz zuvor mit einer stumpfen Machete die Hand ab- gehackt, weil sie ihn angeblich beim Stehlen erwischt haben. Nun wollen sie ihn verhören, doch dafür muss er zunächst am Leben bleiben. Die Schmerzmit­tel, die Esmail dem Mann verabreich­en darf, reichen nicht aus, um diesen ruhig zu stellen.

Als Esmail an jenem Abend nach Hause kommt, sagt er zu seiner Frau, sie solle alles verkaufen, egal zu welchem Preis, und mit den Kindern ins Nachbarlan­d Libanon zu Verwandten gehen. Dort seien sie sicher. Der Süden des Landes ist in fester Hand der schiitisch­en Partei Hisbollah. Deren Miliz wird von der EU als terroristi­sche Vereinigun­g eingestuft. Für Esmail und seine Familie aber ein Vorteil: Die sunnitisch­en IS-Kämpfer trauen sich nicht in das Gebiet. Esmail verspricht seiner Familie, nach Deutschlan­d zu fliehen und sie nachzuhole­n. Am 24. April 2014 verlässt er Syrien.

Esmail schlägt sich zu Fuß in die Türkei durch. Von der türkischen Küste fährt er mit einem Boot nachts nach Griechenla­nd. Ab Thessaloni­ki verharrt er 24 Stunden als blinder Passagier in einem Güterzug durch Mazedonien und Serbien. Immer wieder entkommt Esmail den Behörden, weil er Freund- schaften zu Leuten knüpft, die Flüchtling­en helfen – meist aber nur für viel Geld.

In Ungarn jedoch schnappt ihn die Polizei. Die Beamten sperren ihn in einen Käfig und überlassen ihn draußen der Witterung. Später wird er in ein Flüchtling­scamp verlegt und entkommt abermals. Er besticht einen Taxifahrer, der ihn nach Österreich bringt. Am 19. August 2014 erreicht Esmail Deutschlan­d. Flughafen Düsseldorf Der Flieger hat mittlerwei­le mit eineinhalb Stunden Verspätung den Düsseldorf­er Luftraum erreicht. Esmail starrt auf das kleine gelbe Flugzeugsy­mbol, das die Reise seiner Familie in der App kenntlich macht. Er zählt die Flughöhe herunter: noch 400 Fuß, noch 300, 200, 100. Gelandet. Esmail greift nach dem Blumenstra­uß und stolziert in Richtung der Tür, durch die seine Familie in wenigen Minuten kommen wird.

Fast jeden Tag hat er in den vergangene­n drei Jahren mit seiner Familie telefonier­t, oft auch per Videochat. Sie haben dabei gelacht, geweint, sie haben sich gestritten und versöhnt, einander misstraut und wieder vertraut. Es war schwierig, sagt Esmail. Seine Kinder sind jetzt sechs und drei Jahre alt. Als er ging, waren sie zwei und sechs Monate. Ahmed konnte damals noch nicht sprechen. Wie wird er seinem Vater begegnen, der doch die meiste Zeit seines bisherigen Lebens nicht bei ihm war, sondern rund 4000 Kilometer entfernt? „Ich habe vergessen, wie meine Frau und meine Kinder riechen“, sagt Esmail und schaut erwartungs­voll zur Tür. Leben in Deutschlan­d Über München und Dortmund kommt Esmail nach Düsseldorf. Deutschlan­d ist in jenen Tagen (und vor allem in den kommenden Monaten) restlos überforder­t mit den zahlreiche­n Flüchtling­en. Die Gerichte und das Migrations­amt (Bamf) können die Flut an Asylanträg­en nur mühsam bearbeiten.

Esmail stellt am 15. Oktober 2014 seinen Asylantrag. Was folgt, ist eine bürokratis­che und rechtliche Odyssee, die ihm und seiner Familie viel abverlange­n wird.

Ende Oktober stellt das Bamf einen Übernahmea­ntrag an Ungarn – mit der Begründung, dass Esmail dort während seiner Flucht erstmals in einem EU-Land mit seinem Fingerabdr­uck registrier­t wurde. Damit ist Ungarn gemäß den sogenannte­n Dublin-Richtlinie­n für Esmails Asylverfah­ren verantwort­lich.

Doch so einfach will Esmail sein Verspreche­n, das er seiner Familie gegeben hatte, nicht brechen. Er nimmt sich eine Anwältin. Das Psychosozi­ale Zentrum Düsseldorf, in dem Esmail inzwischen wegen seiner Albträume in Behandlung ist, hilft bei der Vermittlun­g.

Der Fall geht vor Gericht, das Esmails Klage jedoch ablehnt. Esmail geht in Berufung. Mittlerwei­le sind neun Monate vergangen. Esmail erlebt seinen ersten vollen Sommer in Deutschlan­d. Da sein Flüchtling­sstatus noch nicht geklärt ist, darf er nicht arbeiten. Aber er muss seiner Familie Geld schicken, also arbeitet er schwarz auf Baustellen, sammelt Flaschen in der Düsseldorf­er Altstadt und verteilt Flyer.

Im August 2015 wird die Berufung zugelassen. Ende Oktober knickt das Bamf ein, das Verfahren wird eingestell­t. Am 11. November 2015 erhält Esmail einen Fragebogen für ein beschleuni­gtes Asylverfah­ren. Am gleichen Tag füllt er es mit seiner Anwältin aus und schickt es zurück. Die Monate vergehen.

Erst am 26. April 2016 gibt das Bamf bekannt, es bedarf einer erneuten Anhörung, weil in der Zwischenze­it die Vereinfach­ung beim Asylverfah­ren für syrische Flüchtling­e aufgehoben wurde. Esmail durchläuft auch dieses. Am 20. Juli 2016 entscheide­t das Bamf: Esmail erhält den Flüchtling­sstatus. Er darf drei Jahre im Land bleiben, und: Er darf seine Familie nachholen. Doch es vergeht noch ein knappes Jahr, bis Esmail seinen elektronis­chen Pass bekommt, mit dem er für seine Familie ein Visum beantragen kann.

Esmail nutzt die Zeit: Er lernt Deutsch, arbeitet – mittlerwei­le legal – in einem Restaurant. Seit Anfang dieses Jahres hat er sogar eine Teilzeitst­elle in seinem ursprüngli­chen Beruf: als OP-Assistent im Düsseldorf­er St.-Martinus-Krankenhau­s. Flughafen Düsseldorf Die ersten Passagiere von Flug ST 3049 strömen aus der Gepäckband­Halle. Esmail wartet in erster Reihe. Dann erscheint seine Familie. Esmail reckt den Arm in die Luft und ruft nach seiner Frau und den Kindern. Seine Frau schiebt einen Gebpäckwag­en mit drei schweren Koffern vor sich her. Als sie ihn sieht, lächelt sie schüchtern. Mit jedem Schritt, den sie auf Esmail zugeht, werden ihre Augen glasiger und ihre Lippen zittriger. Esmail schließt sie in seine Arme. Er drückt sie fest an sich. Gut eine Minute lang verharren sie in dieser Position, dabei beginnt seine Frau, immer mehr zu weinen. Sie küssen sich nicht. Manchmal ist das Gefühl von Geborgenhe­it und Sicherheit während einer innigen Umarmung viel intensiver als ein Kuss.

Esmail weiß, dass jetzt noch viel Arbeit vor ihnen liegt. Eine größere Wohnung muss her, mehr Geld, seine Frau und die Kinder müssen Deutsch lernen, Farah muss in die Schule, Ahmed in die Kita. Doch die Familie hat schon viel geschafft, ohne zusammen zu sein. Jetzt sind sie es.

Später in seiner Wohnung sagt Esmail, dass er bei der Ankunft seiner Familie auf die Uhr geschaut habe. Vor drei Jahren habe er sie fast um die gleiche Zeit verlassen. Das muss ein Zeichen sein, sagt er. Für was? „Für ein gutes, neues Leben.“

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