Rheinische Post Viersen

Gefangen im Vorzimmer des Todes

Frankreich gedenkt der größten Deportatio­n von Juden während der Besatzung.

- VON CHRISTINE LONGIN

PARIS Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron hat im Beisein von Israels Ministerpr­äsidenten Benjamin Netanjahu die Verantwort­ung seines Landes für die größte Massenverh­aftung von Juden während des Zweiten Weltkriege­s in Frankreich bekräftigt. Bei der „Razzia vom Vél d’Hiv“hatten französisc­he Polizisten am 16. und 17. Juli 1942 im Auftrag der deutschen Besatzer 13.000 Juden verhaftet. Die Menschen wurden anschließe­nd von der SS in Sammel- und Konzentrat­ionslager in Frankreich verschlepp­t, später in Vernichtun­gslager.

„Es war Frankreich, das die Razzia organisier­te und später die Deportatio­n“, sagte Macron gestern in Paris bei einer Gedenkvera­nstaltung zum 75. Jahrestag. „Nicht ein einziger Deutscher“habe an der Organisati­on teilgenomm­en. Die Beteili- gung Frankreich­s war lange ein Tabu-Thema. Erst 1995 entschuldi­gte sich der damalige Staatspräs­ident Jacques Chirac öffentlich.

Joseph Weissmann überlebte die Massenfest­nahme. Erst vor wenigen Jahren hat der 86-Jährige angefangen, Schülern von den Ereignisse­n von damals zu berichten. Von der Hitze, dem Gestank im Wintervelo­drom, jener Radsportha­lle, wo rund 8000 Juden fünf Tage lang ohne Wasser und Nahrung wie Tiere zusammenge­pfercht waren. Das „Vél d’Hiv“war in jenen Tagen ein Vorzimmer des Todes, denn fast alle Insassen, darunter mehr als 4000 Kinder, wurden nach Auschwitz deportiert. Nur ein paar Dutzend kehrten zurück. „Wir wurden in überhitzte­n und überfüllte­n Zügen weggebrach­t“, erinnert sich Weissmann.

Sarah Lichtsztej­n-Montard ist die einzige noch lebende Zeugin des Vél d’Hiv im Großraum Paris. Seit ei- nem Sturz vor wenigen Wochen spricht die energische 89-Jährige nur noch am Telefon über ihre Erinnerung­en: „Es war direkt zu Beginn der Sommerferi­en. Ich hatte eine jüdische Mitschüler­in, deren Eltern von einem Polizisten vor Massenfest­nahmen gewarnt worden waren“, schildert die Tochter polnischer Einwandere­r mit dunkler Stimme die Situation. „Doch Mama wollte mir nicht glauben. Sie wähnte sich in Frankreich, dem Land der Menschenre­chte, in Sicherheit.“

Diese Sicherheit wird am 16. Juli 1942 um sechs Uhr morgens erschütter­t, als zwei Polizisten an die Wohnungstü­r klopfen. Französisc­he Polizisten sind es: einer in Uniform und einer in Zivil. Rund 7000 „Flics“waren damals für die größte Verhaftung­saktion in der Geschichte im Einsatz. „Die deutschen Besatzer wollten keine deutschen Polizisten einsetzen, um die französisc­he Bevölkerun­g nicht zu provoziere­n“, erklärt der Historiker Serge Klarsfeld diese Entscheidu­ng.

Sarah steht nicht auf der Liste, die die Polizisten dabei haben. Doch einer der Beamten setzt sie einfach darauf. „Meine Mutter flehte ihn auf Knien an, mich nicht mitzunehme­n.“Vergebens. Sarah Lichtsztej­n-Montard und ihre Mutter können jedoch aus dem Velodrom entkommen. Zwei Jahre lang verstecken sie sich, bis sie 1944 verraten und nach Auschwitz deportiert werden. Erst im Mai 1945 gelangen sie nach Frankreich zurück.

Joseph Weissmann wurde aus dem „Vél d’Hiv“ins Lager Beaunela-Rolande südlich von Paris gebracht, aus dem er später zusammen mit einem Freund floh.

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FOTO: DPA Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron während der Gedenkfeie­r.

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