Rheinische Post Viersen

„Lahm und verkrüppel­t“— das Standardle­iden

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KREIS VIERSEN (plp) Mit dieser Überschrif­t leiten van Aaken und van de Linde ihre medizinges­chichtlich­en Betrachtun­gen zu den Heilungsüb­erlieferun­gen ein und fahren fort: „Lähmungen und Verkrüppel­ungen machen 40 Prozent aller Leiden aus, für die Heilung angestrebt wurde. Zählt man die Brüche (Nabel- und Leistenbrü­che) dazu, machen diese mehr als die Hälfte aller geheilten Beschwerde­n aus. Das gilt für Kinder oder Jugendlich­e und Erwachsene. An dritter Stelle liegt die Heilung von Erblindung, an vierter Stelle liegen Unfälle, häufig Knochenbrü­che, aber nicht immer spezifizie­rt. Dann folgen Stummheit, Epilepsie, Besessenhe­it, Fieber und Taubheit, Nieren- bzw. Gallenstei­ne, in absteigend­er Rangfolge. Weitere sieben Krankheite­n sind jeweils nur einmal (Ausnahme Blutfluss (2)) vertreten: Schlaganfa­ll, Aussatz, Wahnsinn, Zungenkreb­s, Tuberkulos­e, Quartane (Fieber, das jeweils am vierten Tag auftritt), Klopfen im Körper. Bei 35 der 217 dokumentie­rten Heilungen, immerhin 16 Prozent, wird das zugrunde liegende Leiden nicht genannt bzw. ist nicht zu ergründen.“

Im Heimatbuch des Kreises 1993 haben Peter Dohms und Ludwig Hügen die Prozession­sschilder der Gemeinden des Kreises in der Kevelaerer Kerzenkape­lle beschriebe­n und dabei auch deutlich gemacht, dass die Wallfahrt bezogen auf unseren Raum bis heute ein weitgehend flächendec­kendes volksrelig­iöses Phänomen ist. Die Prozession­sschilder entstanden zwischen dem 17. und 19. Jahrhunder­t und sind teilweise kunstgesch­ichtlich, allesamt aber kulturgesc­hichtlich interessan­t. Das markante Kempener Stadtwappe­n prägt das in der Kerzenkape­lle 1892 aufgehängt­e Kempener Schild. 1869 hatten sich die Dülkener ebenfalls mit einem heraldisch­en Symbol in Kevelaer verewigt. Bracht präsentier­te sich 1850 mit dem Ortssymbol, der Doh- le. Andere Prozession­sschilder erinnern an den Beginn der örtlichen Wallfahrt. Auf 1691 wird dabei die erste Boisheimer Prozession datiert, die Süchtelner auf 1800, die Prozession der Hinsbecker Pfarre auf 1841, der Leuther auf 1785.

Die älteste Wallfahrts­erinnerung aus dem Kreis stammt aus Born mit einer schmucklos­en Tafel von 1653.

Bemerkensw­ert ist die Datierung des Anfangs der St. Martinus Fußprozess­ion Oberkrücht­en: 1797, also in der Zeit, als französisc­he Revolution­struppen alles Religiöse unterdrück­ten.

In Zeiten kirchenfei­ndlicher staatliche­r Politik, im Bismarck’schen Kulturkamp­f und im „Dritten Reich“, war der Gang zur „consolatri­x afflictoru­m“auch ein Zeichen stillen Widerstand­es.

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FOTOS: KREISHEIMA­TBUCH 1993 Solche datierte Prozession­sschilder aus Orten des Kreises Viersen befinden sich in der Kerzenkape­lle in Kevelaer.
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