Das ratlose Zeitalter
Nun wird nur noch über das Greifbare diskutiert, über die Herkunft der Chaoten, die zum G20-Gipfel reisten, über Polizeistrategien, Entschädigungszahlungen, die Gipfeltauglichkeit von Städten. Abarbeiten am Konkreten. Die Gewalt, die da tagelang in Hamburg zu besichtigen war, verfolgte ja kein politisches Programm. Sie war blindwütig, ganz dem Stören und Zerstören verschrieben. Das war sofort Tenor in den Analysen. Allerdings ist es etwas kurz gesprungen, den Exzessen das Politische abzusprechen und sie sich so vom Leib zu halten. Gerade das Phänomen der entleerten Gewalt ist als politisches Symptom doch zu bedenken. Wirft der Schein der Brandflaschen, die da ohne jede Rücksicht auf Opfer flogen, doch ein flackerndes Licht auf die Ratlosigkeit, die visionäre Entleerung unserer Zeit.
Anscheinend leben wir in einem Zwischenstadium, in einem ideologischen Vakuum. Zwei große Glaubenssysteme haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg selbst überführt: Erst hat sich der Staat nicht als der erhoffte Retter vor den Zumutungen der Moderne erwiesen. Dabei hatte er sich in den Konsolidierungsjahrzehnten nach dem Krieg als Garant für Freiheit und Wohlstand bewährt und so den Glauben an seine Stärke genährt. Doch dann kamen Globalisierung, Migration, Klimawandel – alles Probleme der Gegenwart, die weit über das Territorium von Nationalstaaten hinausgreifen. Sie sind deren regulierendem Zugriff entwachsen.
Auch der freie Markt, der darauf als neuer Heilsbringer ausgerufen wurde, hat seine Versprechen nicht eingelöst. Spätestens mit der Finanzkrise 2007/08 wurde das offensichtlich. Selbst für jene, die an der Börse bestens verdient und sich über die Konsumversprechen der neoliberalen Ära gefreut hatten. Weder „die Politiker“noch „die Ökono- men“können es also mit den Schwierigkeiten in einer Welt aufnehmen, die sich nach der Diagnose des Soziologen Ulrich Beck nicht nur im Wandel, sondern in einer „Metamorphose“befindet. „Der unkontrollierte Markt ist gefährlich und der Staat impotent“, fasste sein britischer Kollege Zygmunt Bauman die fundamentale Sinnkrise der Gegenwart zusammen.
So bleibt eine ernüchterte Gesellschaft zurück, die sich weitgehend in Pragmatismus rettet – in zynischer bis trotzig-optimistischer Färbung, während am Horizont neue Krisen aufziehen: Cyberkriege, Klimaflüchtlinge, die Fliehkräfte wachsender sozialer Ungleichheit – niemand hat mehr Rezepte gegen diese Phänomene. Nur die Populisten tun noch so. Und von Protest bleibt Randale, Vermummte, die Steine werfen, anonyme Aggression, die nichts will. Außer sichtbar zu sein.
Nun ist nichts Schlechtes daran, Illusionen zu überwinden. Der Nationalstaat kann globale Probleme nicht lösen, der neoliberale Markt auch nicht, also bleibt die Frage, ob sich neue Instanzen entwickeln, Staatenbünde etwa, die mit größerer Autorität globale Probleme auch global angehen.
Soziologen wie der Amerikaner Benjamin Barber vermuten, dass es eher die Weltstädte, die Megacitys auf allen Kontinenten sein werden, die in neuen Netzwerken auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren können. Nicht nur, weil bereits jetzt eine Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten lebt, sondern weil sich in den Metropolen die globalen Probleme manifestieren, eine urbane Gemeinschaft aber gerade noch so überschaubar ist, dass konkrete Lösungen für Probleme gesucht werden müssen. Wenn die Bürgermeister der Megacitys in einer Weltversammlung ihre Erfahrungen teilen würden, könnte das globale Veränderungen bewirken.
Die wachsende Bedeutung solcher neuer Supra-Strukturen zeichnet sich ab. Doch zeigen etwa die Bemühungen
Es bleibt eine Gesellschaft zurück, die sich in Pragmatismus rettet, während neue Krisen aufziehen