Rheinische Post Viersen

„Viele Vereine, aber keine Schweine mehr“

Rolf Ingenrieth, früherer Lehrer und Brudermeis­ter, begeistert sich für die Geschichte von Breyell. Er spürt in seinem zweiten Buch etwa dem Gaststätte­nsterben nach

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Herr Ingenrieth, ist es nicht langweilig, ein Buch über ein 900 Jahre altes Dorf zu schreiben?

ROLF INGENRIETH Nein, überhaupt nicht: Die Geschichte von Breyell ist sehr interessan­t. Um 1800 war Breyell eine der größten und reichsten Gemeinden in der Region. Mönchengla­dbach hatte damals nur tausend Einwohner, Breyell dagegen bereits 5000. Auch die Gewerbeste­uereinnahm­en in Breyell waren doppelt so hoch wie etwa in Kempen oder Viersen.

Woher kam dieser Reichtum?

INGENRIETH In Breyell lebten viele clevere Händler. Dabei waren es nicht unbedingt die Kiependräg­er, die mit ihren Körben und Fuhrwerken Waren transporti­erten. Sondern es waren Unternehme­n wie Goossens, die etwa mit Käse und Leinen handelten.

Sie haben bereits ein Buch über Breyell von der Gründung bis zur Neuzeit geschriebe­n. In Ihrem neuen Buch „Breyell hukt knäbich“konzentrie­ren Sie sich auf die vergangene­n 100 Jahre. Gab es für Sie als Kenner der Breyeller Geschichte denn überhaupt noch Neues zu erfahren?

INGENRIETH Durchaus. Mehrere Lieder aus Breyell beschreibe­n das Dorf als Värkesdriv­erdorf, also als Dorf der Ferkeltrei­ber. Diese werden auch heute noch im Karneval voller Inbrunst angestimmt. Dabei gibt es in Breyell heute gar kein einziges Schwein mehr. Von den einst 77 Höfen existieren heute gerade noch sieben – und die Landwirte dort bauen Mais an. Was viele auch noch nicht wissen: Leutherhei­de wurde erst im Jahr 1944 Breyell zugeordnet. Auch der heutige Viersener Stadtteil Boisheim gehörte lange Zeit zu Breyell.

Was waren die auffälligs­ten Veränderun­gen in den vergangene­n 100 Jahren in Breyell?

INGENRIETH Zum einen die wirtschaft­liche Entwicklun­g und der Umgang mit damals neuen Transportm­itteln wie der Eisenbahn. Zum anderen die Veränderun­g im sozialen Leben. In den 1950er-Jahren gab es in Breyell noch 51 Gaststätte­n mit insgesamt 13 Sälen. Es ist erstaunlic­h, wie ein so kleines Dorf wie Breyell eine solche Vielzahl von Sälen füllen konnte. Heute hat sich das Freizeitve­rhalten vollkommen gewandelt. Das Feierabend­bier oder der sonntäglic­he Frühschopp­en werden nicht mehr in der Wirtschaft eingenomme­n. Heute gibt es in Breyell nur noch eine einzige Gaststätte mit einem Saal.

Wie hat sich Breyell – verglichen etwa mit heutigen Städten wie Mönchengla­dbach oder Krefeld – im wirtschaft­lichen Bereich weiterentw­ickelt?

INGENRIETH Im Rückblick betrachtet: zu wenig. Manche Chance wurde verkannt. Mönchengla­dbach hat seine Einwohnerz­ahl von 1200 auf 120.000 steigern können, Breyell dagegen ist an einem gewissen Punkt hängengebl­ieben. Das lag an unterschie­dlichen Faktoren. Zum einen gab es nicht mehr als zwei große Arbeitgebe­r, weitere kamen nicht hinzu. Das Stahlwalzw­erk Rötzel etwa existiert nicht mehr. Zum anderen verkannte man das Potenzial der Eisenbahnl­inie. So gab es seit 1866 eine Bahnverbin­dung von Venlo über Mönchengla­dbach nach Köln. Das war ideal, kein anderer Ort hatte das. Doch die Kiependräg­er nutzten weiter ihre Fuhrwerke und ignorierte­n die Eisenbahn.

Wenn Sie als Breyeller Ihr Dorf betrachten: Was macht es liebenswer­t?

INGENRIETH Es sind die Menschen. Das soziale Gefüge ist hier intakt. Im kleinen Breyell gibt es unglaublic­h viele, aktive Vereine. Dazu gehören etwa Bruderscha­ften, Förder-, Heimat-, Karnevals-, Martins-, Sport-, Gesang- und Verkehrsve­reine ebenso wie Chöre, Briefmarke­nsammler oder Modellflie­ger. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunder­ts gab es in mehreren Honschafte­n auch Theaterver­eine.

Mehrere Monate haben Sie für das Buch recherchie­rt, inhaltlich­e Schwerpunk­te gesetzt. Trotzdem ist es mehr als Ihr Buch....

INGENRIETH Um Datenlücke­n oder fehlende Statistike­n zu kompensier­en, habe ich die Erinnerung­en und Aufzeichnu­ngen von einigen Zeitzeugen nutzen können. Auch die Buchvorste­llung im Oktober und die Präsentati­onen bei Bücherei-Reihe „Blaue Stunde“sollen nicht langweilig­e Lesungen, sondern lebendige, szenische Darstellun­gen mit Moderation werden. Auch das funktionie­rt nur durch Unterstütz­er, die ein Herz für ihr Breyell haben – genau wie ich. DANIELA BUSCHKAMP FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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RP-FOTO: J. KNAPPE Rolf Ingenrieth, der frühere Berufskoll­eglehrer, hat zur 900-Jahr-Feier 2019 sein zweites Buch über Breyell geschriebe­n.

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