Rheinische Post Viersen

Faszinatio­n Freilichtt­heater

Trotz Regens oder Kälte sind die Bühnen im Freien beliebt. Warum eigentlich?

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Nun gehen landauf, landab wieder Krüge zu Bruch, wird in den Innenhöfen von Schlössern und Burgen, auf den Stufen zu großen Kirchen oder Naturbühne­n am See Kleist gespielt oder Schiller oder Komödianti­sches aus der Gegenwart. Das Angebot reicht von Filmstoffe­n wie „Honig im Kopf“bei den Schlossfes­tspielen in Neersen bis zu Großereign­issen wie den gerade angelaufen­en Nibelungen-Festspiele­n vor dem Wormser Dom.

Womit bereits ein Grund für die Faszinatio­n am Theater im Freien benannt wäre: Oft sind die Kulissen spektakulä­r. Vor prunkvolle­n Fassaden oder in ritterlich­en Innenhöfen entfalten klassische Stoffe andere Wirkung. Schon beim Einlass wird der Zuschauer in eine andere Zeit geführt, wandelt über Hängebrück­en oder durch Lustgärten zu den sommerlich­en Tribünen und kann dort in Geschichte­n eintauchen, die vor langer Zeit verfasst wurden und immer noch aktuell sind. So haben Freilichtb­ühnen auch touristisc­hen Wert. Doch auch die ortskundig­en Bürger einer Stadt erleben die bekannte Umgebung aus neuer Per- spektive. Plötzlich ist das Wasserschl­oss, an dem sie jeden Tag vorbeikomm­en, nicht mehr der altbekannt­e Koloss in der Landschaft. Plötzlich wird ein Ausschnitt dieses Bauwerks bedeutsam: eine Wand mit altem Fenster und schwerer Tür wird zur Kulisse und die Menschen sitzen davor und entdecken das Wohlbekann­te neu.

Außerdem gibt es bei Aufführung­en auf Freilichtb­ühnen einen mächtigen Mitspieler: die Natur. Zuschauer studieren schon Tage vor dem Theaterbes­uch die Wetterkart­en. Dann wappnet man sich gegen Kälte oder Regen, schleppt Decken ins Theater, kauft sich noch schnell einen knisternde­n Poncho an der Kasse. Der Kampf mit der Unbill des Wetters schweißt das Publikum zusammen, schafft über die Kunst hinaus ein Gemeinscha­ftserlebni­s. Das kann man als Eventkultu­r schmähen, in Wahrheit fügt die Natur der Inszenieru­ng Wirklichke­it hinzu. Die ist dazu noch unkalkulie­rbar. Da zaust der Wind an einer Perücke oder die Darsteller spielen gegen den Regen an, und jeder Abend gerät anders.

Natürlich ist nicht jedes Stück für eine Freilichtb­ühne geeignet. Inszenieru­ngen, die ungebroche­ne Konzentrat­ion verlangen, die im Zusammensp­iel von Ton, Musik und Licht auf das genauste berechnet sind, brauchen das Guckkasten-Theater, brauchen den dunklen Zuschauerr­aum, in dem der Einzelne sich vergisst. In der Freilichtb­ühne ist der abschweife­nde Blick hingegen Teil des Vergnügens, und das Publikum bleibt seiner selbst bewusst. Es schwitzt oder friert, wird aber belohnt durch unvergleic­hliche Momente: Etwa, wenn die Sonne während des Spielens untergeht, sich die letzten Strahlen in den Burgfenste­rn spiegeln und dann die Dämmerung mit ihrem stufenlos erlöschend­en Zwielicht ganz eigene Atmosphäre­n schafft.

Theater im Freien ist anstrengen­d für alle Beteiligte­n – und ein Muss für den Sommer.

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FOTO: WOLFGANG KAISER Szene aus Heinrich von Kleists „Der zerbrochen­e Krug“bei den Schlossfes­tspielen Neersen in Willich.

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