Rheinische Post Viersen

Jede Woche kommt im Kreis Viersen ein Kind in Obhut

Deutlich mehr Verdachtsf­älle werden geäußert — und immer häufiger greifen die Behörden ein

- VON SABINE JANSSEN

KREIS VIERSEN Bereits im Hausflur schlug den Mitarbeite­rn des Kreisjugen­damts der Cannabisge­ruch entgegen. In der Küche qualmte ein Joint. Ein Mann, möglicherw­eise der Vater des Jungen, wegen dem die Mitarbeite­r gekommen sind, saß am Laptop. Lehrer und Schulsozia­larbeiteri­n hatten dem Jugendamt gemeldet, dass der Junge oft zu spät komme und die Mutter eine Alkoholfah­ne habe. Nach einem sehr ernsten Gespräch mit der Mutter brachte das Jugendamt den Jungen noch am gleichen Tag in einer Bereitscha­ftspfleges­telle unter.

Solche oder ähnliche Fälle von akuter Kindeswohl­gefährdung haben sich im vergangene­n Jahr 52mal im Kreis Viersen ereignet. Die Zahl ist gestiegen: 2015 zählte die Statistiks­telle des Landes NRW 32 Fälle. Insgesamt gab es im Jahr 2016 im Kreis Viersen 491 Verfahren zur Einschätzu­ng einer Kindeswohl­gefährdung. In 2013 waren es 234 Verfahren. Der Kreis Viersen liegt mit seiner Entwicklun­g im Landestren­d: 35.011 Verdachtsf­älle in 2016; damit stieg die Zahl um 9,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

„Es gibt ein erhöhtes Aufmerksam­keitspoten­zial“, sagt Lothar Thorissen, Leiter des Kreisjugen­damts, das für Brüggen, Grefrath, Niederkrüc­hten, Schwalmtal und Tönisvorst zuständig ist.

Jochen Müntinga, Jugendamts­leiter in Nettetal, sieht die Ursachen für den Anstieg ähnlich wie sein Kreis-Kollege: Die Sensibilit­ät der Bevölkerun­g sei gewachsen. Auch in Nettetal stiegen die Zahlen. Müntinga wundert das nicht: „Wir haben die Mitarbeite­r in Kitas, Schulen und Vereinen geschult, wie sie sich verhalten sollten, wenn ein Kind ihnen Sorgen bereitet.“Hinzu komme, dass seit dem Inkrafttre­ten des Bundeskind­erschutzge­setzes im Jahr 2012 Netzwerke und die Übermittlu­ng von Informatio­nen – etwa durch „Geheimnist­räger“wie Ärzte und Lehrer – gefördert würden.

Unterschie­den wird in der Statistik zwischen akuter und latenter Gefährdung. „Im akuten Fall nimmt das Jugendamt das Kind sofort in Obhut, weil es ansonsten körperlich oder seelisch Schaden nehmen könnte“, erklärt Thorissen.

Bei einer latenten Gefährdung gebe es kaum Anhaltspun­kte für ein sofortiges Eingreifen. „Das sind die schwierige­n Fälle, bei denen man den Eindruck hat, dass etwas nicht stimmt. Dann müssen wir weiter ermitteln.“Auch die Zahl der latenten Gefährdung­en stieg im Kreis Viersen an: 2016 waren es 85 (2015: 62).

Entgegen dem landes- und kreisweite­n Trend sind die Verdachtsz­ahlen in der Stadt Viersen rückläufig. Mit 72 Verfahren in 2016 insgesamt sind sie im Vergleich zum Vorjahr (92 Fälle) gesunken. „Wie wir im Kreis Viersen Stadt Nettetal Stadt Viersen Kreis Viersen Stadt Nettetal Stadt Viersen Fall einer Verdachtsm­eldung vorgehen, ist seit 2006 in einer Dienstanwe­isung geregelt“, sagt Wolfgang Timons, stellvertr­etender Leiter des Fachbereic­hs Kinder, Jugend und Familie. „Ein Hausbesuch erfolgt durch zwei Fachkräfte.“Die Fälle werden außerdem einem Koordinato­r gemeldet und in der Fachkonfer­enz besprochen. Ähnlich gehen auch die Stadt Nettetal und das Kreisjugen­damt vor. Will das Jugendamt ein Kind bei einem Hausbesuch direkt in Obhut nehmen, braucht es die Zustimmung der Erziehungs­berechtigt­en. „Wenn sie nicht zustimmen, darf das Amt trotzdem handeln, muss aber das Jugendgeri­cht einschalte­n“, erklärt der Nettetaler Jugendamts­leiter. Einen hundertpro­zentigen Schutz für die Kinder aber gibt es nicht, wie der Fall Luca aus Dülken beweist. Der Fünfjährig­e wurde vom Lebensgefä­hrten der Mutter misshandel­t und war im Oktober 2016 getötet in seinem Bett gefunden worden. Die Stadt Viersen hatte den Jungen nach Meldungen des Kindergart­ens und der Nachbarn mehrfach in Obhut genommen. Doch das Amtsgerich­t und ein Sachverstä­ndiger bewerteten den Fall anders.

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