„Richtig evangelisch“– was bedeutet das?
„Protestanten lachen mit heruntergezogenen Mundwinkeln!“– so hat es einmal ein berühmter Kabarettist gesagt. Und in der Tat, den Evangelischen hängt hartnäckig der Ruf an, dass sie streng, spaßgebremst und lustfeindlich seien. „Calvinisten“, das war lange Zeit ein Synonym für fleischgewordene Humorlosigkeit: Gestrenge Gemeindeglieder, Kirchen ohne Bilder, keine Kerzen, höchstens mal ein paar Blumen, eine solide Abneigung gegen den Karneval und natürlich Sparsamkeit. „Zehrung ist mitzubringen“stand noch vor wenigen Jahren in den Einladungen zum Treffen der evangelischen Frauenkreise. Fragt man heute mal im Bekanntenkreis herum, was denn „evangelisch“nun wirklich sei, kriegt man nicht selten zur Antwort: „Evangelisch – katholisch, das ist doch alles das Gleiche. Ist ja schließlich derselbe Gott!“Tja, und damit ist man dann auch schon mittendrin. Eines vorweg: Stimmt! Der gleiche Gott ist es. Trotzdem gibt es natürlich Grundlagen der Evangelischen Kirche, die uns „richtig evangelisch“machen.
Erstes Merkmal für „richtig evangelisch“: Die Bibel ist besonders wichtig! Ein Grundgedanke aller Reformatoren war es, dass die Bibel allen Menschen gehört und dass die Menschen das Wort Gottes lesen und verstehen und nicht durch andere ausgelegt bekommen sollten. Deshalb wollten Martin Luther, Johannes Calvin und auch die übrigen Reformatoren, dass alle Menschen lesen und schreiben können. Das war zu ihren Lebzeiten alles andere als normal. Johannes Calvin war es übrigens, der das ganz selbstverständlich auch für die Mädchen durchgesetzt hat. Dass es dazu nötig war, die Bibel in deutscher Sprache – statt in lateinischer – zu haben, Für die Reformatoren war eines klar: Nur wer die Bibel selber lesen kann, kann sie auch verstehen, kann sie sich zu eigen machen und zum Glauben finden. In den evangelischen Gottesdiensten heutiger Tage spielt die Schriftlesung und die Predigt immer noch eine besondere Rolle.
Zweites Merkmal für „richtig evangelisch“: Die Kirche wird von Gremien geleitet, es gibt keine Leitung „von oben“, außer der durch den Heiligen Geist, jedenfalls ist das immer wieder zu hoffen! Wer schon einmal etwas tiefer in das „Innere“der evangelischen Kirche geblickt hat, hat sich sicher gewundert, dass es keine Amtshierarchie gibt. Das hat natürlich ebenfalls eine lange Tradition und geht auf die reformatorische Erkenntnis zurück, dass die Kirche allein von Jesus Christus geleitet wird und nicht von einem Menschen, der sich Bischof oder Kardinal oder Papst nennt. Entscheidungen werden in der evangelischen Kirche immer von Gremien getroffen. Diese Gremien sind möglichst mit Fachleuten verschiedenster Professionen besetzt. Da kann die Lehrerin mit dem Installateur und der Kindergärtnerin mit anderen über Finanzen und Personal, aber auch über die Pfarrstellenbesetzung und den Gottesdienst der Gemeinde entscheiden. Pfarrerinnen und Pfarrer sitzen natürlich auch in diesen Gremien. Sie haben dort aber nicht mehr Stimmrecht oder Entscheidungsvollmacht, wie andere auch. Übrigens funktioniert das so auf allen Ebenen der evangelischen Kirche – auch zum Beispiel im Kirchenkreis, dem Zusammenschluss vieler Gemeinden. Hier heißt das entscheidende Gremium dann nicht Presbyterium, sondern Synode. Synodale sind Delegierte aus den Presbyterien. Einfach gesagt, kann man eine Synode mit einem Fraktionen – jedenfalls sollte es das nicht – sondern darum, gemeinsam herauszufinden, was für die Gemeinde, den Kirchenkreis, die Landeskirche „das Beste“ist.
Drittes Merkmal für „richtig evangelisch“: Jeder und jede kann mit seinen Gaben mitmachen bei der Gemeindeleitung, auf Augenhöhe und in allen Positionen! Die Reformatoren waren zutiefst überzeugt davon, dass die Gemeinde nicht von einzelnen geleitet werden soll, sondern dass alle Menschen mit ihren verschiedenen Gaben dazu beitragen können, dass der „Laden läuft“! Zu Zeiten von Martin Luther und Johannes Calvin waren das die „Ämter“in der Gemeindeleitung: Es gab Diakone, Lehrer, Älteste und natürlich Pastoren. In dieser Reihe waren und sind bis heute nach dem Willen der Reformatoren die Pfarrer Amtsinhaber unter anderen auf Augenhöhe. Heute haben sich die Ämter verändert. Natürlich gibt es Presbyterinnen und Presbyter und selbstverständlich Pfarrerinnen und Pfarrer. Lehrer und Diakone gibt es nicht mehr so häufig. Das hat auch damit zu tun, dass diese Aufgaben heut- zutage sozialstaatlich organisiert sind.
Natürlich gibt es noch eine ganze Menge anderer Merkmale für „richtig evangelisch“. Zum Beispiel, die Kirchenmusik. Richtig evangelisch wird in Gottesdiensten gut und laut gesungen. Oder die liturgische Vielfalt. Richtig evangelisch gibt es eine Menge von Angeboten, wie Gottesdienste und Andachten gestaltet werden – vom traditionellen Gottesdienst über Taize bis Evensong. Richtig evangelisch ist es auch, dass im Gottesdienst immer eine Menge Gemeindeglieder mitmachen – bei der Lesung, beim Austeilen des Abendmahls, bei den Fürbitten, auch schon mal bei der Predigt!
Humorlos und spaßgebremst? Auf keinen Fall! Bunt, vielfältig und fromm, aber nicht frömmelnd, offen für alle, die Lust haben mitzumachen! Wer das alles ganz spannend findet, ist natürlich herzlich eingeladen, einfach mal reinzukommen – sonntags in den Gottesdienst! Martina Wasserloos-Strunk ist Diplom-Politologin und Vorsitzende der Reformationssynode.