Rheinische Post Viersen

Die mühsame Suche nach dem Wähler

Sie ist der Martin Schulz der mecklenbur­gischen Seenplatte: SPD-Kandidatin Jeannine Pflugradt. Mit einer chancenlos­en Sozialdemo­kratin unterwegs im größten Flächenwah­lkreis Deutschlan­ds.

- VON GREGOR MAYNTZ

BÜTZOW Die Wählerin ist wütend. Sie kocht innerlich, nachdem die Politikeri­n sie an diesem Morgen neben dem Landputen-Verkaufswa­gen auf dem Marktplatz von Bützow angesproch­en hat. „Schauen Sie sich doch um: Alle weg!“, sagt sie mit Zorn in der Stimme. Und dann noch mal mit Nachdruck auf jeder einzelnen Silbe: „Un-se-re gan-ze Ju-gend ist weg!“Jeannine Pflugradt (44) kann ihr nur zustimmen. Die SPD-Abgeordnet­e weiß, was das Wegziehen aus der Region für das Zusammenle­ben der Bleibenden, für die Stimmung unter den Menschen und die Dimension ihres Wahlkreise­s bedeutet.

Weil so viele gegangen sind, wurde er der größte Deutschlan­ds: 6250 Quadratkil­ometer Mecklenbur­gische Seenplatte und Mecklenbur­gische Schweiz mussten zusammenge­nommen werden, um den Standard von jeweils rund 250.000 deutschen Einwohnern zu erreichen. Die verteilen sich nun in einem einzigen Wahlkreis auf eine Fläche von der zweieinhal­bfachen Größe des Saarlandes.

Das führt dazu, dass die Politiker lange nach jeder einzelnen Stimme suchen müssen. Rund 10.000 Kilometer, schätzt die Neustrelit­zer Sozialdemo­kratin, hat sie in diesem Wahlkampfj­ahr schon zurückgele­gt. Was ihre Kollegin in Berlin-Mitte zu Fuß oder mit dem Fahrrad schafft, dauert bei ihr schon mal zweieinhal­b Autostunde­n: die Anreise zum ersten Termin. Drei weitere werden an diesem Tag folgen. Ihr werden dabei Kritik, Neid und Misstrauen begegnen. Es wird Beschimpfu­ngen, Vorurteile und demonstrat­ives Desinteres­se geben. Und viele Phasen des Wartens, in denen einfach keiner vorbeikomm­t.

„Guten Tag, ich kandidiere für den Deutschen Bundestag für die SPD“, lautet die Anrede bei ausgestrec­kter Hand. „Oh, Sie haben aber kalte Finger“, ist eine Antwort. Wahlkampf im ostdeutsch­en Spätsommer, das kann auch kalt und nass sein. So wie am Mittag in Güstrow, als es plötzlich wie aus Eimern schüttet und Pflugradt unter dem SPD-Sonnenschi­rm nicht wirklich Schutz findet, während sich rund um ihre Schuhe der Marktplatz in eine weitere Seenplatte verwandelt.

Gerade erst hatte sich eine Passantin breitbeini­g vor ihr aufgebaut und ihr die riesigen Diäten vorgehalte­n. Pflugradt hält es mit Transparen­z und will Einkünfte und Ausgaben schildern. Die 1500 Euro monatlich für die Bürgerbüro­s in Güstrow und Neustrelit­z bezweifelt die Bürgerin, und kurz darauf zweifelt auch die Abgeordnet­e, ob sie ihr überhaupt noch zuhört. Vorurteile vor den Latz knallen und dann zügig weitergehe­n: Auch das ist Straßenwah­lkampf 2017 in Ostdeutsch­land. „Jede Glaubwürdi­gkeit“habe die Sozialdemo­kratie verloren, heißt es da. Und: „Ihr führt auch noch die Rente mit 70 ein!“Pflugradt ringt sichtlich um Fassung. „Genau dagegen kämpfe ich doch!“, ruft sie dem Mann hinterher, der kopfschütt­elnd den Stand verlässt.

Die Jusos haben die große, schicke Stellwand mit dem Slogan „Zeit für mehr soziale Gerechtigk­eit“zur Halbzeit schon wieder auseinande­rgebaut. Die SPD-Gerechtigk­eit ist nicht wasserfest. Die Bierflasch­en mit der „Storchenbr­äu“-Spezialabf­üllung können indes den Regen ab. Es ist die Kampagne der Jungsozial­isten gegen die Rechten. Mit der Kunstfigur „Storch Heinar“persiflier­en sie die Neonazi-Bekleidung­smarke „Thor Steinar“. Aber nur wenige Unbeteilig­te interessie­ren sich dafür.

Mag sein, dass sich in der ländlichen Region mit wenigen Menschen viele persönlich kennen. Aber es fällt schon auf, dass an den Wahlkampfs­tänden vor allem Freunde und Bekannte und Bekannte von Verwandten zum freundlich­en Smalltalk verweilen. Und Grüße bestellen: Eine hat schon per Brief gewählt. „Natürlich dich, du hast sie überzeugt.“Jeannine Pflugradt lächelt. Ein kleiner Lichtblick inmitten großer Tristesse.

Denn Pflugradts Wiedereinz­ug in den Bundestag ist genauso wahrschein­lich wie die Kanzlersch­aft von Martin Schulz. Der einflussre­iche örtliche CDU-Konkurrent Eckhardt Rehberg hat nicht nur die größeren Plakate, er hat auch beim letzten Mal mit großem Vorsprung gewonnen. Pflugradt zog wider Er- warten über die Landeslist­e ein, weil ausnahmswe­ise auch Platz drei noch zog. Nun ist sie auf Platz fünf. Da müssten landesweit noch viele Stimmen kommen, damit es wieder reicht. Doch Pflugradt hat für ihre Mitstreite­r neue Zahlen über die Umfragewer­te im Land mitgebrach­t. Sie sind desaströs: Nur noch 16 Prozent für die SPD, dafür 22 für die Linken und 32 für die CDU.

Die Bützower Sozialdemo­kraten nennen es ein „unerklärli­ches Phänomen“. Im Bund viele SPD-Kernanlieg­en erfolgreic­h durchgeset­zt, aber es wird daraus kein Trend für die SPD. Und im Land frischer Wind mit einer beliebten SPD-Ministerpr­äsidentin, aber auch das schlägt sich bei den SPD-Werten nicht nieder. Selbst wer der Direktkand­idatin alles Gute wünscht, vergisst meist nicht, ein skeptische­s Wort gegenüber Martin Schulz dranzuhäng­en.

Pflugradt ist seit der Abschiedss­timmung in der letzten Fraktionss­itzung darauf gefasst, nach dem 24. September in Berlin ihre Sachen packen und die beiden Bürgerbüro­s im Wahlkreis wieder dichtmache­n zu müssen. Aber sie gibt sich entschloss­en, den deprimiere­nden Rahmenbedi­ngungen nicht zu erliegen. „Ich bin Sportsfrau durch und durch“, erzählt sie. Und sie meint damit: Eine wie sie gibt sich erst auf der Ziellinie geschlagen, bereitet demonstrat­iv die Feier für den Wahlabend vor. Die bis zu einer Rücken-OP begeistert­e Leichtathl­etin („alles ab 400 Meter und besonders gern der Hürdenlauf“) will auch in der Schlusspha­se noch mal alles geben. „Da sind so viele, die auf mich zählen“, sagt sie und blickt in die Runde. Entschiede­nes Kopfnicken.

Mangelndes Selbstbewu­sstsein hat sie sich auch für die zurücklieg­enden vier Jahre in der Bundespo- litik nicht vorzuwerfe­n. Sie, die als Sekretärin bei den Stadtwerke­n arbeitete und seit vielen Jahren Fraktionsv­orsitzende im Stadtrat von Neustrelit­z ist, wagte nicht nur beim Griechenla­nd-Paket gegen die eigene Koalition zu stimmen, sondern auch bei der Entscheidu­ng über den Bundeswehr­einsatz in Syrien. Sie fragte vorher im Newsletter nach Meinungen ihrer Anhänger – und stellte sich dann umso überzeugte­r quer, weil sie mit ihrer Position nicht alleine war. Für zu kurz hält sie die Wahlperiod­e. Fünf Jahre wären viel besser, weil gerade Neulinge eine Zeit für die Einarbeitu­ng bräuchten und die Vorgänge ohnehin sehr viel langwierig­er abliefen, als man es von außen vermute. Und wenn sie es doch noch einmal schaffen sollte, will sie daran arbeiten, dass die Parlamenta­rier viel früher in das Entstehen von Gesetzentw­ürfen eingeschal­tet werden.

All die Erfahrung aus vier Jahren ist nun am Stand reduziert auf Kugelschre­iber, Streichhöl­zer, Flaschenöf­fner und Gummibärch­en. Das interessie­rt manche. Und einige versichern mit der Tüte in der Hand, sie würden sich den beigelegte­n Flyer auch mal anschauen. Dann huscht ein Anflug von Hoffnung über Pflugradts Gesicht. Bis der Nächste es ablehnt, überhaupt von ihr angesproch­en zu werden.

Das hat aber keine Auswirkung­en auf ihren Elan. Über Jahre hat sie mit Einverstän­dnis ihrer Familie 40.000 Euro privat gespart, die sie jetzt in den persönlich­en Wahlkampf steckt. Es gebe zwar auch Unterstütz­ung von der Landes- und der Bundespart­ei. Aber das reiche bei Weitem nicht. Schon gar nicht in einem solch riesigen Wahlkreis. 3500 Plakate haben ihre Helfer aufgehängt, viele davon hat sie selbst mit festgezurr­t. Dazu 25 Großplakat­e. Ehemann Holger wurde zum persönlich­en Wahlkampfl­eiter.

Bei der Eröffnung einer AnneFrank-Ausstellun­g in der Alten Synagoge im rund 20 Kilometer entfernten Krakow am See will Pflugradt das letzte Zeichen des Tages setzen. Vorher sind zwei weitere Stunden Straßenwah­lkampf vorgesehen. Auf der Suche nach einem günstigen Standort ist ihr Büro auf den Edeka-Parkplatz am Bahnhof gekommen. In einer menschenar­men Region offenbar ein naheliegen­der Gedanke – Grüne und CDU sind auch schon da. Die Kontrahent­en begrüßen sich freundlich. Dann kommt es zum Tütentausc­h ihrer Werbemater­ialien. Neugierig betrachten die Wahlkampfh­elfer ihre Ausbeute. Die CDUler haben nun zehn Argumente für eine starke SPD. Und die SPDler 50 Gramm Makrele – die Fischdose ziert ein Konterfei des CDU-Kandidaten.

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FOTO: MAYNTZ Die SPD-Abgeordnet­e Jeannine Pflugradt (44) kämpft am Wahlstand in Güstrow für ihren Verbleib im Bundestag – bei Wind und Wetter.

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