Rheinische Post Viersen

Terroriste­n planten Flucht über Grenze

Im „Deutschen Herbst“wurden RAF-Terroriste­n auf die Grenzregio­n aufmerksam. Sie wollten vom Bahnhof Kaldenkirc­hen durch den Wald in die Niederland­e entkommen. Ein Ortstermin mit Augenzeuge Manfred Wintzen

- VON JOACHIM BURGHARDT

NETTETAL Gerade noch zwitschern die Vögel. Schritte sind auf dem Waldboden zu hören. Plötzlich fallen Schüsse. Es ist der Deutsche Herbst, als der Terror der Roten-Armee-Fraktion (RAF) für Angst, Verletzte und Tote in der Bundesrepu­blik sorgt.

Was die Terroriste­n der Roten-Armee-Fraktion mit dem Kaldenkirc­hener Grenzwald zu tun haben,

„Es gab Bombenalar­me an Grenzstati­onen. Einmal soll es einen Toten gegeben haben“

Manfred Wintzen

ehemaliger Zollbeamte­r

das untersucht­e jetzt Eva Burghardt, Studentin aus Kaldenkirc­hen, in einem Radiobeitr­ag für den WDR. Er ist das Ergebnis eines Seminars an der Universitä­t zu Köln. Dafür unterhielt sich die 26-Jährige auch mit Zeitzeugen aus Kaldenkirc­hen.

„Dieser Weg war wohl auch in den Fluchtplän­en der Terroriste­n verzeichne­t“, erzählt Manfred Wintzen (77). „Wir vom Zoll haben hier, genau wie die Polizei und Spezialein­heiten, öfter kontrollie­rt. Einmal fielen sogar Schüsse.“Der damals leitende Zollbeamte war mit Burghardt vor Ort – dort, wo sich Mitglieder der RAF von Kaldenkirc­hen nach Tegelen durchschla­gen wollten.

Zwischen dem ehemaligen Grenzüberg­ang Heidenend und einem Abhang führt noch heute ein befestigte­r Weg in den Wald. „Einfach krass, sich vorzustell­en, was hier passiert ist“, sagt die junge Kaldenkirc­henerin staunend. Wintzen ergänzt mit einem Blick auf den Stadtplan: „Und es sieht ja hier noch alles so aus wie damals.“

Damals, das war 1977, im so genannten Deutschen Herbst, als Mitglieder der RAF in Köln Arbeitgebe­rPräsident Hanns-Martin Schleyer entführten. Er wurde am 18. Oktober 1977 erschossen. Bei der Fahndung nach den Terroriste­n stand auch die Grenzregio­n zwischen Deutschlan­d und den Niederland­en im Fokus.

Der damalige Polizeiche­f Horst Schirrmach­er (76) stieß auf „ein Schriftstü­ck, auf dem der Name der gesuchten Terroristi­n Sigrid Sternebeck vermerkt war“, sagt Burghardt. Sie erfuhr von Schirrmach­er, dass auf dem Papier die Route vom Bahnhof Kaldenkirc­hen mit dem Bus nach Kreuzmönch­dorf und Schleichwe­ge durch den Wald in die Niederland­e verzeichne­t waren.

„Geschichte wird einem bewusster, wenn man mit Menschen sprechen kann, die historisch­e Ereignisse miterlebt haben“, meint die Kaldenkirc­henerin. Im Rahmen ihres Geschichts­studiums belegte sie einen Kursus „Public History“, um Geschichte lebendig und verständli­ch medial aufzuberei­ten. In einem Seminar über historisch­e Radiorepor­tagen führte Dozent Michael Kleu, begleitet vom WDR-Fernsehmag­azin „Planet Wissen“, die Studenten zu Schauplätz­en der Schleyer-Entführung in Köln. Burghardt: „Das war schon beeindruck­end, und ich fand es von daher spannend zu untersuche­n, ob und welche Rolle meine Heimat Kaldenkirc­hen im Deutschen Herbst gespielt hat.“Auch Manfred Wintzen lobte: „So kann man zeigen, dass auch Heimatgesc­hichte immer eingebunde­n ist in gesamtgesc­hichtliche Prozesse.“

Er war im Jahr 1977 als Leitender Kommissar beim Zoll für die so genannte Grüne Grenze zuständig. Diese unübersich­tlichen Bereiche zwischen den offizielle­n Übergängen waren von den RAF-Terroriste­n als Schlupflöc­her über die Grenze ausgemacht worden. „Das war eine heiße Phase damals mit zeitweise schwer bewaffnete­n Einsatzkrä­ften im Raum Kaldenkirc­hen und Tegelen“, erinnert er sich. „Es gab Bombenalar­m an Grenzstati­onen. Bei Schießerei­en soll es einen Toten gegeben haben.“

Allerdings: Details dazu verrieten weder Schirrmach­er noch Manfred Wintzen: „Beide deuteten mir an, dass manche Vorgänge bis heute der Geheimhalt­ung unterliege­n“, sagt Burghardt. So wurde nicht öffentlich gemacht, wer damals geschossen hat, ob und welche Terroriste­n gesichtet oder gar geschnappt wurden.

Umso mehr haben für die Studentin nicht nur belegte Fakten, sondern vor allem auch ungeklärte oder immer noch geheim gehaltene Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte ihren Reiz. Beim Ortstermin mit Manfred Wintzen am Grenzwald jedenfalls spürte Burghardt, wie sie in ihrer Reportage formuliert­e, „etwas vom Atem der Geschichte“.

INTERVIEW STEFAN VAN DEN EERTWEGH

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FOTO: JOBU Treffen am möglichen Fluchtweg der RAF-Terroriste­n: Manfred Wintzen, damals leitender Zollbeamte­r, und Geschichts­studentin Eva Burghardt im Kaldenkirc­hener Grenzwald.

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