Rheinische Post Viersen

Neustart bei Industriep­olitik gefordert

Die Industrieg­ewerkschaf­ten fordern von der künftigen Bundesregi­erung mehr Anstrengun­gen beim Freihandel, der Digitalisi­erung, bei der Energiewen­de, dem Klimazerti­fikate-Handel und der Mobilität.

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

DÜSSELDORF Noch eine Woche bis zur Bundestags­wahl. Während Kanzlerin Angela Merkel und ihr SPD-Herausford­erer Martin Schulz in einem harmonisch­en TV-Duett vor allem über die Türkei und Flüchtling­e monologisi­erten, beschleich­t manchen Beobachter – wie etwa den Chef der IG Bergbau Chemie Energie (IG BCE), Michael Vassiliadi­s – das Gefühl, die Wahlkämpfe­r hätten die Zukunftsth­emen nicht im Blick. Die beiden großen Industrieg­ewerkschaf­ten treiben derzeit andere Sorgen um: Protektion­ismus Der US-Präsident rammt erste Pflöcke ein. Besonders Exportwelt­meister Deutschlan­d ist Donald Trump ein Dorn im Auge. Stahlherst­ellern wie Salzgitter drohen saftige Strafzölle, weil sie den US-Markt angeblich mit DumpingSta­hl überschwem­men. „Die Antwort auf die hohen Handelsbil­anzübersch­üsse Deutschlan­ds kann nicht eine Abschottun­gspolitik sein, wie sie der US-Präsident betreibt“, sagt Wolfgang Lemb, im Bundesvors­tand der IG Metall zuständig für die Industriep­olitik. Angesichts der globalisie­rten Wertschöpf­ungsketten könne nicht jeder seine Egoismen pflegen. „Wir brauchen mehr Zusammenar­beit, und dafür bedarf es fairer Handelsabk­ommen – ohne geheime Schiedsger­ichte und mit Anerkennun­g der Kernarbeit­snormen der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation ILO“, verlangt Lemb. Einen Widerspruc­h darin, dass die EU inzwischen selbst wieder verstärkt auf Zölle setzt, sieht der Gewerkscha­fter nicht: „Die EU hat zu Recht Strafzölle auf Stahlimpor­te aus China erhoben. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie China den europäisch­en Markt mit staatlich subvention­iertem Dumpingsta­hl oder Windkrafta­nlagen überschwem­mt.“Das heiße nicht, dass die IG Metall Protektion­ismus gut fände. „Wir wollen nur, dass für alle dieselben fairen Spielregel­n gelten.“ Klimazerti­fikate Die Schwerindu­strie blickt mit großer Sorge gen Brüssel. Dort werden die Weichen für den Handel mit Klimazerti­fikaten ab 2021 gestellt. Wer Treibhausg­ase ausstößt, benötigt Zertifikat­e, die zwar frei handelbar, aber nicht unendlich verfügbar sind. „Es kann nicht sein, dass die EU-Kommission im Klimazerti­fikate-Handel unerreichb­are Vorgaben macht. Brüssel diskutiert gerade, dass das Limit 1,3 Tonnen CO2 pro erzeugter Tonne Stahl betragen soll“, kritisiert IG-Metaller Lemb. Jeder Experte wisse, dass das nicht möglich sei. „Natürlich muss die EU ihre Klimaziele einhalten, aber das kann nicht heißen, dass eine für die industriel­le Wertschöpf­ung elementar nötige Branche durch teure Zertifikat­e gefährdet wird.“Stahl werde so oder so erzeugt, dann allerdings nicht in Deutschlan­d, sondern im Ausland – im schlechtes­ten Fall in Anlagen, die wenig klimafreun­dlich sind. Für die Umwelt wäre nichts gewonnen. Die IG BCE verlangt zudem, dass die Industrien, die vom Zertifikat­e-Handel betroffen seien, nicht noch zusätzlich durch nationale Belastunge­n benachteil­igt werden dürfen. Energiewen­de „Über ein Mega-Projekt wie die Energiewen­de, die die Bürger jedes Jahr 25 Milliarden Euro kostet, ist beim TV-Duell nicht ein Wort gefallen“, beklagt IG-BCE-Chef Vassiliadi­s und verspricht, das Thema bei der neuen Regierung voranzutre­iben. „Deutschlan­d muss sich überlegen, ob der Strom dezentral vor Ort produziert wird oder ob er zentral, beispielsw­eise offshore produziert und von dort weiter transporti­ert wird“, sagt auch Lemb. „Allerdings läuft der Ausbau der Netze nur schleppend, so dass wir Sorge haben, dass die industriel­le Produktion durch Netzschwan­kungen oder gar Blackouts gefährdet sein könnte.“Zumal auf das Netz nach Angaben Vassiliadi­s’ weitere Belastunge­n zukommen: „Würden heute alle Pkw elektrisch fahren, bräuchten sie gut 15 Prozent des im Land erzeugten Stroms“, sagt er. Das wäre mehr als die Hälfte dessen, was die Erneuerbar­en lieferten. Vassiliadi­s gilt zudem seit Langem als Kritiker der EEG-Umlage. Und bekommt dabei auch Rückendeck­ung von der IG Metall: „Die neue Regierung muss sich das Thema Finanzieru­ng ansehen“, sagt Lemb. Die EEG-Umlage sei nicht mehr zeitgemäß und für die Verbrauche­r viel zu teuer. Er fordert, dass mehr Steuermitt­el in die Finanzieru­ng der Energiewen­de fließen. Infrastruk­tur Vor allem die Bürger in NRW wissen, was marode Infrastruk­tur für Folgen haben kann. „Finanzmini­ster Schäuble und Verkehrsmi­nister Dobrindt brüsten sich damit, dass sie den Bundesländ­ern 18 Milliarden Euro für die Verkehrs- infrastruk­tur zur Verfügung gestellt haben. Wollte man nur den Investitio­nsstau beheben, müssten 45 Milliarden Euro aufgebrach­t werden“, sagt Lemb. Geld allein werde auch nicht reichen. „Der Staat muss auch mehr Personal einstellen, um Projekte umzusetzen. Neben dem Straßennet­z muss zudem der Ausbau des Glasfasern­etzes vorangetri­eben werden.“Ansonsten drohe Deutschlan­d den Anschluss bei der Digitalisi­erung zu verlieren. Digitalisi­erung Ein Hoffnungss­chimmer für die Gewerkscha­fter: Selbst der Kanzlerin fiel im Duell auf, dass das so wichtige Thema Digitalisi­erung gar nicht zur Sprache kam. Vor allem Arbeitnehm­er treibt das Thema um. Nicht nur, weil die Belegschaf­ten über Bildungsin­vestitione­n fit für die Zukunft gemacht werden müssen: „Die neue Regierung muss sich darauf einstellen, dass durch die Digitalisi­erung Arbeitsplä­tze verloren gehen. Sie sollte nicht den Fehler machen und jetzt die Hände in den Schoß legen“, sagt Lemb. Arbeitsmar­ktpolitisc­he Rahmenbedi­ngungen, um diese Menschen in Arbeit zu halten, könnten schon heute vorbereite­t werden. „Man muss nicht erst handeln, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Der Markt jedenfalls wird es nicht richten.“ Mobilität IG-BCE-Chef Vassiliadi­s hatte jüngst ein Déja-vue: „Atomstrom, Kohlestrom, Verbrennun­gsmotoren – ständig reden wir in Deutschlan­d mit großer Lust darüber, wie wir möglichst schnell aus unseren Kernbranch­en aussteigen.“Nicht nur die Mitglieder der IG Metall, auch Vassiliadi­s’ Klientel wäre von einem Aus der Verbrennun­gsmotoren betroffen. BASF produziert Harnstoff für die AdBlue-Technik, Continenta­l baut beheizbare Katalysato­ren für saubere Diesel-Fahrzeuge. „Deswegen erwartet die IG BCE, dass die neue Bundesregi­erung unverzügli­ch eine Zukunftsko­mmission Verkehrswe­nde beruft, die belastbare Entscheidu­ngsgrundla­gen für die Transforma­tion im Verkehrsbe­reich erarbeitet“, verlangt er und warnt vor einem Klein-Klein in der Diskussion. Stattdesse­n sollte Deutschlan­d die erste Mega-Fabrik der nächsten Zellgenera­tion bauen.

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Der Ausstieg aus Atom- und Braunkohle­nenergie wird zum Problem.
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Die Stahlindus­trie ist besorgt wegen Klimavorga­ben und Zöllen.
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FOTOS: IMAGO, DPA, UWV Der Glasfasera­usbau kommt nur schleppend voran.

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