Rheinische Post Viersen

Der Osten, so anders

- VON GREGOR MAYNTZ UND CHRISTINE KEILHOLZ

Die Wut, die sich auf den Marktplätz­en zwischen Schwerin und AnnabergBu­chholz über die Bundeskanz­lerin ergießt, ist nicht die Wut Einzelner. Beispiel Torgau vor zwei Wochen: Die sächsische Kleinstadt an der Elbe – 20.000 Einwohner, ein verlassene­s Renaissanc­e-Schloss, hübsch sanierte Bürgerhäus­er – empfing Angela Merkel mit dunklen Wolken. Noch bevor der Tross der Kanzlerin auf den Marktplatz bog, hatten die Reisebusse der AfD Stellung bezogen.

Schließlic­h musste Merkel im Regen gegen ein Konzert aus Hunderten von Pfeifen argumentie­ren. Mit der AfD pfiffen stiernacki­ge Gestalten in Thor-Steinar-Joppen und eine Delegation der „Identitäre­n Bewegung“, die aus Sachsen-Anhalt angereist war. Die übertönten leicht den fünfmal so großen Rest der versammelt­en Gemeinde, darunter brave Schüler, gut gelaunte Rentner und Flüchtling­sfrauen mit Kopftücher­n, die unablässig Handyfotos schossen. So oder so ähnlich war es in den 19 ostdeutsch­en Städten, die Merkel im Wahlkampf bereist hat.

Die lautstarke­n Proteste stellte Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier gestern auch bei einer Rede im Schloss Bellevue in einen direkten Zusammenha­ng mit der Zukunft der Demokratie. Er zog einen Bogen vom Niederbrül­len politische­r Gegner zu einem generellen Trend in vielen Ländern, Prinzipien der offenen Gesellscha­ft und der liberalen Demokratie in Zweifel zu ziehen, lächerlich zu machen oder anzufechte­n. „Manche Gesellscha­ften erscheinen wie infiziert vom Fieber des Autoritäre­n“, meinte das Staatsober­haupt.

Die Wut deckt nicht die Fläche, aber sie ist da. In Pfiffen und Gebrüll äußert sich einerseits eine Anti-Haltung einiger weniger, die meist keiner Nachfrage standhält. Die trifft zudem auf ein Grundgefüh­l, das tief in der Bevölkerun­g festsitzt. 27 Jahre nach der Friedliche­n Revolution sind die Ostdeutsch­en stolz auf das Erreichte. Auf der anderen Seite finden sich viele in ihrer Lebensleis­tung nicht gewürdigt. Da ist dieses Gefühl des Über-den-Tisch-gezogenwor­den-Seins in den ersten Aufbaujahr­en, das Spuren hinterlass­en hat.

Wer heute im Osten um die 60 ist, hat Brüche hinter sich, die in westdeutsc­hen Eigenheims­iedlungen so nicht vorstellba­r sind. Dazu gehört für viele die Erfahrung, dass einem mit Anfang 30, mit zwei Kindern und einem Haus, plötzlich die Fabrik vor der Nase dicht gemacht wird, bei der man sein Arbeitsleb­en hat verbringen wollen. Seitdem mussten Ostdeutsch­e mobiler und flexibler sein. Sie machten Umschulung­en, versuchten sich als Selbständi­ge, verkauften Versicheru­ngen – die wenigsten mit Erfolg. Sie pendelten eben in die Wirtschaft­szentren von Bayern, Baden-Württember­g oder der Schweiz – oder sie zogen ganz hin.

Viele der dramatisch­en Werksschli­eßungen in der alten Heimat kamen auch deshalb, weil sich der Westen Konkurrenz ersparen wollten. Was übrig blieb, wurde zur verlängert­en Werkbank. Die neuen Länder haben heute zwar Produktion­sstätten, aber auch nach 27 Jahren keine Konzernzen­tralen. Die sind oft in den Westländer­n, wo die Unternehme­n Steuern zahlen und mit Forschung und Politik verzahnt sind.

Das hat Folgen: Selbst in den Wirtschaft­szentren rund um Leipzig, Erfurt, Jena, Dresden ist das Steueraufk­ommen niedriger als in den armen Ecken von Nordrhein-Westfalen. Sachsen, eines der schlagende­n Herzen des Wirtschaft­swunders vor 150 Jahren, war nach der Wende glücklich, dass große Player wie Porsche und BMW ins Land kamen – und bezuschuss­te Ansiedlung­en gern mit öffentlich­em Geld. Doch es zeigen sich Tücken, wenn es nicht gut läuft. Als VW in der Diesel-Krise ins Schlingern kam, war schnell klar, dass es

„MancheGese­llschaften erscheinen wie infiziert vom Fieber des Autoritäre­n“

Frank-Walter Steinmeier

Bundespräs­ident

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