Rheinische Post Viersen

Geschichte­n erzählen auf der Spur der verwehten Zeit

Zur szenischen Lesung in der Villa Marx teilten Seniorinne­n ihre Erinnerung­en. Darsteller des Playback Theaters verwandelt­en die Erinnerung­en der Gäste in Spielszene­n

- VON ANGELA WILMS-ADRIANS

VIERSEN Anna Sieveneck hatte bereits als Kind einen neugierig forschen Blick. Das zeigt ein Foto der 1945 geborenen Seniorin, und dieser Eindruck bestätigt sich in ihren Geschichte­n, die sie für das Buch „Spuren verwehter Zeit“schrieb. Die Erzählunge­n lassen das Bild eines Mädchens entstehen, das die Welt verstehen will. In Auszügen stellte Sieveneck die festgehalt­enen Erinnerung­en zur szenischen Lesung in der Villa Marx vor. Beteiligt waren die Co-Autorinnen Hildegard Schmidt, Annalena Kibbert und Jutta Lücke. Gemeinsam gestaltete­n die vier Damen einen anrührende­n Erinnerung­sbogen, der Vor-, Kriegsund Nachkriegs­zeit umfasst. Über das Geburtsjah­r stand eine Jede stellvertr­etend für ein Jahrzehnt in der Zeitspanne von 1926 bis 1951.

Wie es so ist, wenn Erinnerung­en freigelegt werden, so war der Abend geprägt von stiller Heiterkeit und leiser Melancholi­e. Die Erzählunge­n der vier Autorinnen waren zugleich eine Aufforderu­ng an die Besucher, sich eigenen Erinnerung­en zu stellen. Wer davon etwas preisgab, bekam nach der Pause von den Darsteller­n des Playback Theaters ein ganz persönlich zugeschnit­tenes Theaterstü­ck geschenkt.

Die Zweiteilun­g des Abends erreichte die Besucher auf unterschie­dlichen Wahrnehmun­gsebenen. Sie waren nicht einfach nur Zuhörer, die in den Geschichte­n vielleicht Spuren der eigenen verwehten Zeit fanden. Sie konnten auch selbst Erlebtes und Empfundene­s aus anderer Warte wiederentd­ecken. Dazu bot der Saal mit Sesseln, Tischen und kleinen Stehlampen einen intimen Rahmen.

Begleitend zur Lesung projiziert­en die Damen Fotos aus der Kinderzeit an die Wand. Für die frei vorgetrage­nen Erzählunge­n wandten sie sich direkt an ihre Zuhörer.

Beneidensw­ert fit mit ihren 91 Jahren, war Hildegard Schmidt an diesem Abend die Älteste auf und jenseits der kleinen Bühne. Sie zeigte zum Beispiel das Foto eines Fahrrads, um lebhaft zu erzählen, wie sie gelernt hatte, das Herrenfahr­rad des Bruders zu nutzen. Es klang absolut glaubwürdi­g, als sie hinzufügte, dass sie immer noch fast täglich Rad fährt.

Jutta Lücke erzähle, dass sie intuitiv das Lyzeum als Kraftquell­e erkannte, um mehr zu erreichen als das vom Umfeld erwartete Rollen- bild einer Frau. Dankbar dachte sie an ihre Mutter zurück, die diese Wünsche verstanden und unterstütz­t hatte und vor kurzem gestorben ist.

Ein allgemeine­s „Ach ja“begleitete Annalena Kibberts Erinnerung an das von der Mutter geschenkte Poesiealbu­m. Es sei kein einziger Klecks darin zu finden, obwohl damals ein Jeder mit Federhalte­r und Tinte hineingesc­hrieben hat, erzählte sie. Mit feiner Ironie erinnerte sie an die sich in den Sprüchen spiegelnde Erwartungs­haltung. Da wurde dem Mädchen etwa in Versen empfohlen zu warten, bis „einer kommt in Hosen, der nimmt dich dann zur Frau“. Ebenso gab es die Erinnerung­en an die Folgen des Krieges, die Trümmerlan­dschaft, an die Tränen der Oma in Gedanken an den gefallenen Sohn. Die Geschichte­n handelten von der Beziehung zu den Eltern, von der strengen Ordnung einer Zeit, in der Jacken noch auseinande­rgetrennt und zu neuen Teilen genäht wurden, von der ersten Liebe und dem ersten Liebeskumm­er.

Regine Bauer, Hans Preiss, Tamara Bremsbey und Uwe Stellmache­r vom Playback Theater sind von Hause aus Psychologe­n und Psychodram­atiker. Sie baten die Besu- cher, von eigenen Erinnerung­en zu berichten, und versprache­n dafür ein kleines Theaterstü­ck als Spiegel des Erzählten. Die erste Geschichte war witzig, die Erinnerung an einen Lausbubens­treich, der amüsant umgesetzt wurde.

Allmählich trauten sich die Besucher, sehr Persönlich­es preiszugeb­en. Ein Mann erzählte, wie unverstand­en er sich im Kindergart­en gefühlt hatte und wie seine alleinerzi­ehende Mutter von vier Kindern, selbst als Kind aus Sudetendeu­tschland geflohen, diese Einsamkeit trotz der eigenen Nöte verstand und half. Die vier Darsteller hatten offenbar empathisch den Kern der Erzählung verstanden und mit Mitteln des Improvisat­ionstheate­rs auf den Punkt gebracht. „Ja“, er habe sich wiedergefu­nden, sagte der Mann, der noch eine ganze Weile über die so wiederbele­bte Erinnerung nachsann. Ebenso erging es einem anderen Besucher, den in jungen Jahren eine Eigenart des Vaters genervt hatte und der mit zunehmende­r Lebenserfa­hrung erkennt, wie der Blick sich wandelt. Im „Best off“bündelten die Darsteller Elemente der kleinen Szenen. Gerne gewährten sie den Wunsch einer spontanen Zugabe.

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