Rheinische Post Viersen

Rätsel um versunkene Kapelle

Auf dem heutigen LVR-Gelände stand einst Süchtelns einziges Gotteshaus. Um das Verschwind­en der Kapelle ranken sich mehrere Legenden. Als Ritter mit Kettenhemd, Schild und Schwert kämpft Heinz Prost um den Erhalt der Sagen

- VON EMILY SENF

SÜCHTELN Aus dem kleinen roten Lautsprech­er in Heinz Prosts Hand dröhnt eine düstere, unheilschw­angere Musik. Der Himmel ist wolkenverh­angen, vereinzelt fallen Regentropf­en auf das modrige Herbstlaub. Hier und da ist der Ruf eines Vogels zu hören, das Flattern von Flügeln zwischen den Baumkronen. Die schwarzwei­ße Katze mittendrin aber lässt sich von nichts aus der Ruhe bringen. Gemütlich sitzt sie im Gras, die Pfoten an den Körper gezogen, langsam pendelt ihr Schwanz über ihrem Kopf hin und her. An welch geschichts­trächtigem als ein schweres Gewitter die Burgmauern zum Zittern brachte. Baldinus soll Gott gelästert haben – und ein greller Blitz die Burg in Asche gelegt. Einzig ein kleiner Weiher blieb demnach an dieser Stelle zurück.

Prost, 78 Jahre alt, aufrechter Gang, weißes Haar und wache Augen, gefallen beide Geschichte­n, einen Favoriten hat er nicht. Wichtig ist ihm dagegen, dass sie überhaupt erzählt werden. Er selbst übernimmt das mehrmals im Monat, gerade ist Winterpaus­e, erst im Frühjahr legt er seine Rüstung wieder an. Die besteht aus einem weißen Gewand mit Umhang, einem echten Kettenhemd, Helm, Schild und Schwert – insgesamt rund 30 Kilogramm schwer. Orientiert hat er sich dafür an den Tempelritt­ern, davon zeugt das große rote Kreuz auf Schild und Brust.

Prost ist zwar kein gebürtiger Süchtelner, aber die Historie seiner Wahlheimat ist dem gebürtigen Recklinghä­user eine Herzensang­elegenheit. Für Grundschul­klassen, Kindergart­engruppen, Geburtstag­sgesellsch­aften und Erwachsene macht er darum Führungen zur sogenannte­n versunkene­n Kapelle – und versucht mit seiner Verkleidun­g und der Musik eine möglichst authentisc­he Stimmung zu erzeugen.

Der 78-Jährige kennt sich auf dem Gelände des Landschaft­sverbands Rheinland (LVR) aus, machte dort seine Ausbildung und war 43 Jahre lang Leiter der Pflegeschu­le. Im Frühjahr 1958 hörte er zum ersten Mal die Geschichte­n um die versunkene Kapelle. Fortan wollte er mehr wissen, befragte in den manchmal endlos wirkenden Nachtschic­hten Kollegen, gebürtige Süchtelner. Damals stand die Kapellensp­itze mit Wetterfahn­e noch ein ganzes Stück weiter hinten als heute. Der Weiher war deutlich größer, das Gelände rundherum gepflegt. Eine Brücke führte über das Wasser. „Es war ein Traum“, erinnert sich Prost. „Täglich waren drei Gruppen unterwegs, um alles sauber zu halten. Kein einziges Blatt lag auf dem Weg.“Die Patienten waren in die Arbeiten eingebunde­n, diese galten für sie als beruhigend­e Therapie, erzählt Prost. Doch der Weiher zog auch etliche Mücken an, und die Unterhaltu­ngskosten waren hoch. 1978 ließ der Landschaft­sverband ihn trockenleg­en. Mehr als zwei Jahrzehnte lang gerieten die Sagen in Vergessenh­eit.

Seine Recherchen hat Prost Anfang der 90er-Jahre in einem Heft- Heinz Prost vorbei zur Irmgardisk­apelle. Verkleidet sind sie dabei als Ritter, Stadtschre­iber, Mönch, Hexe, heilige Irmgardis sowie Märchenerz­ählerin. Kontakt zur Gruppe über Christian Krätz unter der Rufnummer 02162 67749 oder per E-Mail unter kraetzvier­sen@t-online.de chen zusammenge­tragen. Demnach hatte Kommerzien­rat Wilhelm Ling, „ein begeistert­er Naturfreun­d und Liebhaber des Brauchtums“, 1894 dem damals noch großen Weiher eine Kirchturms­pitze, ein altes, verwittert­es Kreuz mit Wetterfahn­e, gegeben – vermutlich die Kapellensp­itze der Vorster Pfarrkirch­e St. Godehardus, die im selben Jahr abgebroche­n wurde. 1906 eröffnete auf dem heutigen LVR-Gelände eine Klinik für epileptisc­he Kinder, mit jeweils 60 Mädchen und 60 Jungen sowie einer Schule und einer Turnhalle. 1920 wurde sie aufgelöst. Der LVR-Klinikverb­und aber wuchs weiter, bis auf seine heutige Größe. Prost ging im Jahr 2000 in den Ruhestand.

Mehr als 20 Jahre nach Trockenleg­ung des Weihers setzte er sich 1990 für eine Neuanlegun­g ein, wandte sich an den Landesdire­ktor und bekam nach Monaten des Bemühens die Zustimmung zu seiner Idee. In Absprache mit dem Referat für Umweltschu­tz und Landespfle­ge, der Unteren Wasserbehö­rde des Kreises und der Unteren Forstbehör­de Mönchengla­dbach, „vielen bürokratis­chen Hinderniss­en“, entschied sich der Wahl-Süchtelner für den kleinen Weiher hinter der Klinik für Orthopädie, der als Regenrückh­altebecken dient.

Danach packten mehrere an: Nach Vorlagen der alten Wetterfahn­e fertigte Heinz-Willi Sleegers vom Festaussch­uss Süchtelner Karneval eine Zeichnung der neuen, Werner Holthausen vom Süchtelner Verschöner­ungsverein übernahm die Schmiedear­beiten. Im April 1992 dann der große Moment: Mitglieder der Freiwillig­en Feuerwehr Süchteln setzten den Betonblock mit Wetterfahn­e in den Boden. Etliche Besucher feierten die Einweihung.

Im vergangene­n Jahr hat der Landschaft­sverband den Waldweg, an dem der Weiher liegt, instandset­zen und die Pflanzen drumherum zurechtstu­tzen lassen. „Immer wieder hatten sich Besucher und Angehörige von Patienten über den desolaten Zustand des Weihers und des Weges beschwert“, sagt Prost. Damit das nicht wieder passiert, sollen die Mitarbeite­r einer Gärtnerei, die sich um die Sanierung gekümmert haben, regelmäßig wiederkomm­en.

Prosts Traum ist es, dass der Park eines Tages wieder so hergestell­t wird, wie er ihn im Jahr 1958 kennenlern­te. Ob die Legenden über die Kapelle wahr sind, ist für den Rentner nicht wichtig. „In jeder Geschichte steckt immer ein Fünkchen Wahrheit“, sagt er und zwinkert.

Die schwarzwei­ße Katze ist längst verschwund­en.

„Ende der 50er wurde der Park täglich gesäubert. Kein einziges Blatt lag auf dem Weg“

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RP-FOTO: FRANZ-HEINRICH BUSCH Wenn er Besucher zu der versunkene­n Kapelle führt, trägt Heinz Prost immer eine rund 30 Kilogramm schwere Rüstung.
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RP-ARCHIV: F.-H. BUSCH Irmgardisk­apelle

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