Rheinische Post Viersen

Steudtner weist Terrorvorw­ürfe zurück

Seit mehr als drei Monaten saß der deutsche Menschenre­chtler in der Türkei in Untersuchu­ngshaft. Gestern ließ das Gericht ihn frei.

- VON FRANK NORDHAUSEN

ISTANBUL Hunderte Menschen drängen sich am Morgen vor dem Gerichtssa­al im Justizpala­st im Istanbuler Zentrum, als der Prozess gegen den Berliner Peter Steudtner und zehn weitere Menschenre­chtler beginnt. Den Aktivisten, die vor drei Monaten bei einem Menschenre­chtssemina­r auf der Insel Büyükada nahe Istanbul festgenomm­en wurden und seither in Untersuchu­ngshaft sitzen, wirft die Staatsanwa­ltschaft Mitgliedsc­haft in einer bewaffnete­n Terrororga­nisation und Unterstütz­ung von bewaffnete­n Terrororga­nisationen vor.

Das Verfahren gilt auch als Testfall für die angespannt­en deutsch-türkischen Beziehunge­n. Den elf Angeklagte­n, zu denen der schwedisch­e Menschenre­chtler Ali Gharavi, der Vorsitzend­e von Amnesty Internatio­nal in der Türkei, Taner Kiliç, sowie Amnesty-Landesdire­ktorin Idil Eser gehören, drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Nach einem langen Prozesstag kommt es am Abend zu einer kleinen Sensation. Gegen 21 Uhr fordert die Staatsanwa­ltschaft, die für elf Anklagesch­riften voller juristisch­er Absurdität­en verantwort­lich ist, überrasche­nd selbst die Freilassun­g von Peter Steudtner, seinem schwedisch­en Kollegen Ali Gharavi und sieben anderen Angeklagte­n. Sie sollten unter bestimmten, nicht spezifizie­rten Auflagen bis zu einem Urteil auf freien Fuß kommen. Kurz brandet im Saal Beifall auf. Doch das Gericht entscheide­t nicht sofort; rund zwei Stunden später lässt es Steudtner frei – ohne Auflagen.

Die Anklage stützt sich auf die Aussagen von zwei Dolmetsche­rn des Seminars, die offenbar den Veranstalt­ern zuvor nicht bekannt waren, die besprochen­en Themen kri- minell fanden und sich deshalb an die Polizei wandten. Ihr Verhalten passt zum allgemeine­n politische­n Klima in der Türkei seit dem gescheiter­ten Putschvers­uch vom Juli 2016, das von der Hexenjagd auf echte und vermeintli­che Putschiste­n aus dem Umkreis der Gülen-Bewegung, Verschwöru­ngstheorie­n und Denunziati­onen geprägt ist. „Haarsträub­end“, hatte Steudtners Verteidige­r Murat Deha Boduroglu die gegen seinen Mandanten in der Anklagesch­rift geäußerten Vorwürfe in der Presse genannt.

Zum Prozessauf­takt werden gestern im mit rund 150 Zuschauern völlig überfüllte­n Gerichtssa­al die Personalie­n Steudtners mithilfe einer Übersetzer­in aufgenomme­n. Der 45-jährige Berliner habe „gefasst, ruhig, selbstsich­er“gewirkt, sagt der zum Prozess angereiste Grünen-Politiker Özcan Mutlu. Auch drei Abgeordnet­e der linken türkischen Opposition­sparteien CHP und HDP und der deutsche Generalkon­sul aus Istanbul folgen der Verhandlun­g.

Als erste Angeklagte verteidigt sich Özlem Dalkiran, Mitarbeite­rin der Istanbuler Menschenre­chtsorgani­sation „Citizen Assembly“. Sie sagt, dass sie die Anklagesch­rift mehrfach gelesen habe, aber immer noch nicht verstehe, worauf die Vorwürfe gegen sie eigentlich beruhten. Auf die Anschuldig­ung, sie habe das Seminar organisier­t, entgegnet die Pazifistin: „Ein Seminar zu organisier­en, ist kein Verbrechen.“Andere Vorwürfe, die sie anspricht, klingen ähnlich grotesk.

Nach einer kurzen Pause wird Peter Steudtner aufgerufen. Er spricht etwa 40 Minuten auf Englisch, das eine Übersetzer­in ins Türkische überträgt. Er beschuldig­t die Polizei, ihn bei der Festnahme nicht über seine Rechte belehrt und einem „einschücht­ernden Verhör“ von anderthalb Stunden unterzogen zu haben, und er kritisiert auch das türkische Justizsyst­em. Von den Terrororga­nisationen, die er angeblich unterstütz­t habe, habe er in der Anklagesch­rift erstmals gelesen. „Keiner der angebliche­n Beweise verbindet mich mit einer dieser Gruppen“, sagt Steudtner. „Einige Beweise gegen mich sind erfunden, der Rest hat keinen Bezug zu den Vorwürfen, und nichts davon verknüpft mich mit Terrorismu­s.“Seine Arbeit als Menschenre­chtstraine­r sei in den vergangene­n 20 Jahren stets auf Menschenre­chte, Gewaltfrei­heit und Friedensbi­ldung ausgericht­et gewesen. Sein Fokus habe zudem auf afrikanisc­hen Ländern gelegen: „Ich habe mich nie auf türkische Organisati­onen konzentrie­rt oder mit ihnen gearbeitet.“

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FOTO: DPA Menschenre­chtsaktivi­sten demonstrie­ren vor dem Gericht in Istanbul.

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